Judith Maria Kleintjes

Einen Katzensprung hinter der Bilker Kirche liegt die Alte Liesegang Fabrik. Einst stellte hier die Firma Liesegang Diaprojektoren her. Längst haben Künstler und Kreative das weitläufige lichtdurchflutete Areal an der Volmerswerther Straße als Wirkstätte entdeckt. So auch die „Malerin des Lichts“ Judith Maria Kleintjes. Wir haben sie in ihrem Atelier besucht.

Dem Akademieprofessor und Mitbegründer der Arte-Povera-Bewegung, Jannis Kounellis, ist es zu verdanken, dass die Niederländerin Judith Kleintjes 1997 nach Düsseldorf kam. Eigentlich war es nur eine einwöchige Masterclass für die sie der griechisch-stämmige Künstler einlud. Ein Austausch zwischen der Düsseldorfer Kunstakademie und der Royal Academy Den Haag. Hier studierte die Amsterdamerin damals Kunst.

Ein Übersetzer vermittelte zwischen Kounellis und seiner niederländischen Studentin. „Aber wir hatten direkt eine Kommunikationsebene“, erinnert sie sich. Er fragte sie dann, ob sie bei ihm weiter studieren wollte. Und sie wollte. „Ich fand es einfach toll an der Akademie. Wie es dort roch und es war so international. Ich wollte eh weg aus Amsterdam.“

Sie zeigt mir ein Schwarz-Weiß-Foto einer Arbeit aus jener Zeit. Ein riesiger Kokon aus Stahlwolle ist darauf zu sehen, den sie gewappnet im Blaumann, mit Handschuhen und Maske um ein geschweißtes Gerüst gesponnen hat. Das Material sieht weich aus. „Doch man könnte sich damit bis auf den Knochen schneiden. Außerdem löst sich Staub und sticht einen in der Nase“, erklärt die Künstlerin.

„Dazu habe ich eine kleine Malerei einer Gänseblümchenkette gehängt, die einen auch an Stacheldraht erinnert.“ Dieses Duale, Ambivalente, das Schöne und das Schmerzhafte, das Abgründige im Schönen sind bereits in dieser frühen Arbeit vereint und dieser scheinbare Widerspruch durchzieht ihr Werk. „Ich habe mich dann immer wohler gefühlt, in Düsseldorf“, erzählt Judith Kleintjes. Aus einem Jahr an der Akademie wurden drei, abgeschlossen als Meisterschülerin. Und schließlich blieb sie.

Durch das geöffnete Fenster hören wir die S-Bahnen und Züge vorbei rauschen. Gegenüber der ehemaligen Fabrik liegt die S-Bahnhaltestelle Volmerswerther Straße. Mitten in der Stadt, urban und doch irgendwie abgeschieden. In der Mitte des länglichen, lichtdurchfluteten Raums stehen mehrere Werktische. Darunter drei große Rollen Stahlwolle, Kisten, Kartons, Eimer mit Porzellanmasse, Töpfe, Gipsobjekte und Negativformen. An einem Bücherregal in der hinteren Ecke des Raums hängt ein breiter Zweig mit Trauben von getrockneten kleinen Datteln. Wie Lungenflügel sehen sie aus. Natur, nature morte, Abgestorbenes, Getrocknetes, Samenkapseln, Äste, Zweige, Stämme, wie Adern, wie Knochen, wie Organe, blutfarbene Flächen. Der natürliche Kreislauf des Werdens und Vergehens in der Natur stehen dem eigenen menschlichen Handeln gegenüber. Das ist es dann auch, was Judith Kleintjes fasziniert.

Sie selbst beschreibt es so: „In meiner künstlerischen Arbeit untersuche ich das Phänomen Zeit und Raum, das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit, Realität und Bild. Natürliche Transformationsprozesse, die zugrunde liegende Kraftmessung und Energie, setze ich in Beziehung zu meiner eigenen Wahrnehmung, meinem Denken und Handeln. Diese Prozesse zu analysieren und darauf zu reagieren, ist für mich eine ständige Inspirationsquelle. Dabei spielen Philosophie, Poesie und Mythologie eine wichtige Rolle.“

Wie sich etwas aus dem Nichts aufrichtet, Richtung Sonne strebt, dann der Erde zuneigt und wieder vergeht. Wie ein Spross, eine Blume, ein Trieb, eine Knospe. Der mit Bleistift nachgezeichnete Schatten einer Magnolienblüte, der dem Tagesrhythmus folgt, wie eine Sonnenuhr. Während eines dreimonatigen Stipendiums 2017 im EKWC dem Europäischen Keramik Werkzentrum in Oisterwijk, nahe Tilburg (NL), entdeckte Judith Kleintjes dieses fragile Material für sich. Hier haben schon Tony Cragg und Anish Kapoor gearbeitet.

Sie wählte Porzellan, weil es aus der Erde kommt, geformt aus Humus. „Ich wollte damit Zeit und Licht materialisieren. Also etwas, das eigentlich immateriell ist, sichtbar machen.“ Abwegige Ideen waren im EKWC Programm. Aber: „Das habe ich in 30 Jahren nicht erlebt, dass jemand die Zeit malen will“, sagte der Keramikmeister. Dennoch ist es Judith Kleintjes gelungen. Sie zeigt mir wiederum ein Foto: Ihr Arbeits-Wägelchen unter schattenspendenden Bäumen, die Lichtreflexe auf den Boden malen. Oder eben auf Judiths Ofenplatten. Mit grauer Keramikmasse arbeitete sie diese nach. Brachte dafür das Porzellan zunächst mit der Hand auf. („Zu dick – sah aus wie Schlagsahne“. Sie lacht). Dann mit etwas Wasser verdünnt und mit einem Pinsel auf die entstandenen Schatten aufgetragen.

Sie reicht mir ihre „greifbaren Stückchen Zeit.“ Es ist ein erhebendes Gefühl diese fragilen Objekte, diese „Zeitfragmente“, zu betrachten und in der Hand zu halten. Wie Amöben oder ganz eigene Blüten, Blätter oder Blütenblätter sehen sie aus. Liegen die Objekte auf einem durchsichtigen Glastisch, zaubern sie wiederum Reflexe von Licht und Schatten auf den Boden, die Decke oder an die Wand. Bezaubernd, poetisch ist das. „Malerin des Lichts“ hat eine Kunsthistorikerin Judith Kleintjes genannt. Das passt.

Anfangs zerbrachen viele dieser zarten Porzellanobjekte. Judith Kleintjes erlernte dann eigens die japanische Reparatur-Technik Kintsugi um die Bruchstücke mit Hilfe von Goldlack wieder zusammenzusetzen. Dieser kleine Goldring adelt ihre Bruchstücke und täuscht kunstvoll darüber hinweg, dass sie eigentlich geflickt sind – „Tthe beauty of imperfection.“ In einem weiteren Werkzyklus widmet sich Judith Kleintjes Porträts. Ein Oval, ein abstraktes Gesicht. Umsponnen von einem Netz aus Fäden, wieder eine Art Kokon. Ein Kopf gefangen in seiner Gedankenwelt. Unfrei. Der Blick hinter die Fassade der Stirn. Wieder macht die Künstlerin nicht sichtbar, was der Betrachter ohnehin sieht. Es ist das Gefühl, das sich zeigt, in diesen Porträts der etwas anderen Art, die Rückseite des Lebens.

Es gab an der Schwelle zum 19. Jahrhundert schon einmal einen Künstler, der Kleintjes hieß. Jan Kleintjes. „Ein vornehmer Zweig unserer Familie, der auf Landgut Holthoorn in Heerde lebte“, sagt Judith Kleintjes und lächelt. Auch Jan Kleintjes malte Porträts. Unter anderem jenes von Prinz Hendrik (1876-1934), Prinzgemahl der niederländischen Königin Wilhelmina. Heute lebt ein Sammler von Jan Kleintjes auf Landgut Holthoorn (NL). Kürzlich hat er auch von Judith Kleintjes eine Arbeit gekauft und damit einen Kreis geschlossen.

Danke!

Text: Katja Hütte
Fotos: Sabrina Weniger
© THE DORF 2020

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