Patchouli und Plateaus – Die magische Welt der Anys Reimann

Anys Reimann | Foto: Sabrina Weniger

Patchouligeruch wabert durch das Weltkunstzimmer. Früher ist hier mal eine Backfabrik gewesen, die Teil eines Gebäudekomplexes der Genossenschaft Konsum war. Konsumvereine sind eine Form der Genossenschaften, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert verbreitet waren. Ihre Mitglieder konnten Waren des täglichen Bedarfs und Lebensmittel günstig einkaufen. Neben der Bäckerei wurde auf dem Gelände in Flingern auch Bier, Limo und Wasser abgefüllt. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Kunst und Kultur sind eingezogen und der charmante Hinterhof ist ein kultureller Hotspot Düsseldorfs. Bands proben im schalldichten Keller der ehemaligen Backfabrik, eine Stiftung organisiert Kunstausstellungen und kleine Betriebe haben hier Geschäftsräume mit Industrieflair. Auch einige bildende Künstler haben sich in der Anlage ihre Ateliers eingerichtet, mit viel Geschichte im Mauerwerk und fantastischer Aussicht auf Düsseldorf.

Der Patchouligeruch kommt aus Anys Reimanns Atelier in der obersten Etage. Sanfte Rauchspiralen steigen aus Räucherstäbchen in die Luft und hüllen ihr Atelier und den Flur ein. Die Bildhauerin und Malerin experimentiert in vielen Feldern und mischt schon seit Kindertagen Duftkompositionen. Im Alter von zehn Jahren begann sie, ein Parfüm zu benutzen, das sie bis heute trägt. Im vergangenen Jahr entwickelte sie ihre eigene Variante von Patschuli. Auch in ihrer Kunst kommen Duftmoleküle vor. Unauffällig liegt ein großer brauner Ledersack in der Ecke. „Duftmaschine“ heißt dieses etwas merkwürdige Objekt, aus dem Schläuche herauskommen und Duft verteilen. Große und kleine Glaskugeln stecken in der Lederhaut und wirken wie Bullaugen. Diese Ästhetik greift sie immer wieder auf, wie bei den Werken „Mioche“ oder „Canaille“. Sie wirken wie außerirdische Wesen und erinnern mit den braunen Säcken und glänzenden Kugeln an die geheimnisvollen Jawas aus Star Wars. Wahrscheinlich ist diese popkulturelle Assoziation ein Zufall, doch sie verdeutlicht, wie vielschichtig das Werk von Anys Reimann ausgelegt werden kann.

Wenn Anys Reimann einen Hoodie zum Kunstwerk erklärt, hängt das ultimative Streetwear Essential plötzlich an der Museumswand, allerdings nicht aus schlaffer Baumwolle, sondern als silber-glänzender Aluminiumguss. „Dieses Kleidungsstück erzählt nicht nur vom letzten Schrei in der Mode, es erzählt ebenso von Jugendkultur, Befreiung, Polizeigewalt, Rassismus und Angst.“, schreibt die Künstlerin in ihrem Katalog. Schon die Ausstattung der verwinkelten Atelierräume ermöglicht ein unendliches Spektrum an Deutungen. Während zart rosafarbene Lilien auf dem Schreibtisch blühen, wirken die Werke an der Wand wie Fetischobjekte. Im Bücherregal steht Charles Bukowski neben griechischer Mythologie, und während im Büroraum Kunstmagazine Texte zu aktueller Gesellschaftskritik bieten, beschäftigt sie sich in ihrer Werkstatt mit historischen rassistischen Fotobüchern.

Anys Reimanns Arbeitskosmos sieht nicht wie ein klassisches Malerstudio aus, sondern vielmehr wie ein Theaterfundus, der erkundet werden möchte: Abgüsse von Armen und Beinen liegen in den Regalen und ein schwarzer Fellmantel hängt an einem Gestell. Aus seinem Fellkragen guckt ein Gesichtsabdruck der Künstlerin hervor und reckt sein Antlitz gen Himmel. In großen Plastikboxen liegen Werkzeuge und Materialien penibel geordnet und warten auf ihren Einsatz.

Am Ende eines dunklen Flurs leuchtet ein Bild im Tageslicht. Auf der großen Leinwand ist eine hockende Frau abgebildet, die nicht viel mehr trägt als schwarze Plateauschuhe mit hohen Absätzen. Ihr Körper und ihr Gesicht sind aus Fotoschnipseln und Pinselstrichen zusammengesetzt, als Sinnbild dafür, wie vielschichtig der Mensch ist. „Viele meiner Bilder enthalten Teile von mir“, sagt Anys Reimann und meint dies wörtlich. Einige der Münder, Nasen und Augen stammen aus Porträtaufnahmen von der Künstlerin, andere Fotos hat sie im Internet oder in Magazinen gefunden, vergrößert und ausgedruckt. Tausende Fotoschnipsel warten nach Körperteilen sortiert in Mappen, bis sie eines Tages auf der Leinwand zu einem Menschen zusammengesetzt werden. In den Collage Paintings sind unterschiedliche Personen zu einem Ganzen vereint. Trotz offensichtlicher Klebekanten, dicken Pinselstrichen, verschiedenen Hautfarben und Proportionen wirken sie wie aus einem Guss.

Mit diesen Collagen ist Anys Reimann vor drei Jahren schlagartig bekannt geworden. In der Gruppenausstellung „Attempts to be many“ zeigte die Sammlung Philara Porträts aus ihrer Werkreihe „Le noir de…“. Der Titel bezieht sich auf den gleichnamigen Spielfilm des senegalesischen Regisseurs Ousmane Sembène. Erzählt wird die Geschichte der jungen Diouana aus dem Senegal, die an der Côte d’Azur für eine weiße französische Familie arbeitet. Doch sie findet weder Anerkennung noch Anschluss in der neuen Gesellschaft und wird von ihren Arbeitgebern derart ausgebeutet und diskriminiert, dass sie in größter Verzweiflung den Freitod wählt. Diese bewegende Geschichte greift Anys Reimann immer wieder auf und erzählt sie neu. Sie zeigt Diouana als widerständige Frau, die mit festem Blick ihre Betrachter anvisiert und auf hohen Plateausohlen über alle Widrigkeiten der Gesellschaft hinwegsteigt.

Die Ausstellung in der Sammlung Philara wird zum magischen Moment in Anys Reimanns Karriere. Quasi über Nacht wird sie zum Shootingstar und das, nachdem sie Jahrzehntelang fast im Geheimen ihre Kunst produziert hatte. Bei der Eröffnung trifft sie eine alte Bekannte, die heute Galeristin ist und sie sofort ins Programm der Galerie VAN HORN aufnimmt. Seitdem steht das Telefon nicht mehr still, erzählt die Künstlerin: „Ich wache manchmal morgens auf und sage zu meinem Mann: Kannst du mich mal kneifen?“. Plötzlich kann sie von ihrer Kunst leben, auch wenn es für sie gar nicht so leicht ist, die Werke in andere Hände zu geben: „Als vor vielen Jahren eine bekannte Sammlerin mein Atelier besucht hat und ein Bild kaufen wollte, habe ich einfach nein gesagt. Ich habe damals keine Arbeiten verkauft. Das waren alles meine Babys.“ Mit der Galerie und dem Kickstart auf dem Kunstmarkt hat sich dies endgültig geändert. Reimanns Werke hängen heute nicht nur in Wohnzimmern von Freunden und Sammlern, sondern auch in renommierten Museen wie der Kunstsammlung NRW.

Schon als Kind wusste sie, dass sie als Schauspielerin auf der Bühne oder im Atelier vor der Leinwand stehen will. Doch als ihr in jungen Jahren gesagt wird, dass es in Deutschland keine schwarzen Künstler geben würde, war sie derart verunsichert, dass sie in andere kreative Berufe auswich. Sie wurde Friseurin und Stylistin, kümmerte sich als Requisiteurin um Zirkuskostüme, studiert Innenarchitektur und bekam schließlich eine Stelle als Produktdesignerin. Dort machte sie Karriere und entwarf alles vom Kaffeelöffel bis zum Bett, doch ihre Zeichnungen, Collagen und Gemälde blieben im Atelier versteckt. Als sie sich endlich traut, sich an der Kunstakademie in der Klasse Thomas Grünfeld zu bewerben, ist sie 46 Jahre alt.

Reimann wird angenommen und verbringt die Studienzeit vor allem in der Kunststoffwerkstatt und der Gipsbildnerei. Dieser prägende Lebensabschnitt formt ihr Selbstverständnis als freischaffende Künstlerin, doch ihre Themen und Materialien hat sie längst gefunden: „Meine Materialien haben immer mit dem Körper zu tun. Ich arbeite mit Leder und Fell und auch meine Metallabgüsse zeigen immer Körperteile“, so Reimann. Immer wieder tauchen Plateauschuhe in ihrem Werk auf, nicht nur gemalt auf der Leinwand, sondern auch als Skulptur. Fellüberzogen und kuschelig oder als glatt-glänzender Kunststoffabguss stehen die ikonischen Siebzigerjahreschuhe im Atelier und erzählen auch von Reimanns Teenagerwunsch, mit solchen hohen Hacken durch die Altstadt und die Mata-Hari-Passage zu laufen. Als sie dann endlich alt genug ist, um nachts um die Häuser zu ziehen, findet sie schnell Anschluss in der wilden Kreativszene von Düsseldorf. Sie taucht in die Glamrockszene ein, hört Kiss und T-Rex und findet den lockigen Sänger Marc Bolan „rasend scharf“. Den Stil mit glänzenden Satinhemden, engen Lederhosen und knalligem Glitzer Make-up liebt sie bis heute und ehrt ihn immer wieder in ihrer Kunst. Mit Tiefe und Leidenschaft verwebt Anys Reimann persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Realitäten mit kulturhistorischen Bezügen. Mit diesem einzigartigen Stil und komplexen Themen vertritt und behauptet die Düsseldorfer Künstlerin eine neue Position in der Kunstwelt.

DIE AUSSTELLUNG ANYS REIMANN: „DARK STAR BACKYARD“ IST BIS ZUM 8. JANUAR 2025 IM BILKER BUNKER ZU SEHEN.

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Der Beitrag erschien im neuen THE DORF THE MAG No. 8 – das Magazin könnt Ihr hier auf shop.thedorf.de bestellen.

(c) THE DORF, 2024
Text: Laura Dresch
Bilder: Sabrina Weniger

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