Daria Nazarenko

Foto: Linda Schäffler

“Dive In” – diese Worte begrüßen die Besucher*innen von Daria Nazarenkos Website. Dort zeigt die Künstlerin mit den ukrainischen und russischen Wurzeln ihre Arbeiten, zu denen Videokunst, Installationen, Performance-Kunst und Tanz zählen. Im Interview erzählt Daria uns vom Potenzial des urbanen, öffentlichen Raums und ihrer Mission, Dialoge zu eröffnen und Kontaktstellen zu bilden. Diese selbstgestellte Aufgabe hat in den letzten Wochen an Bedeutung gewonnen: nie war es wichtiger, zusammenzuarbeiten und das Gespräch zu suchen. Daria spricht mit uns über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen mit dem Krieg in der Ukraine und der Untrennbarkeit dieser beiden Bereiche. Ganz konkret äußert sich diese Verbindung in der Residenz, die sie und weitere Kunstschaffende für geflüchtete Menschen planen. Vom 15. bis zum 17. April 2022 ist außerdem jeder zum Ausstellungsprojekt “I sneezed on the beat and the beat got sicker” im Neuen Kunstraum eingeladen. Was Euch da erwartet? Findet es heraus und dive in…

Bitte stell Dich doch kurz vor: Wer bist Du und was machst Du? Ich bin Künstlerin, ein Beruf, der in meinem Fall sehr vielfältig und facettenreich ist. 2001 bin ich mit meiner Familie aus Russland emigriert, als älteste Tochter einer Arbeiterfamilie; das führt dazu, dass ich einen starken Drive und eine sehr große Energie hinter alles stecke, was ich mache. Ich folge meist meiner Neugier und versuche mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, zu forschen. Zu diesen Mitteln gehören Performance, Urban Dance, Installationen, die Konfrontationen mit unterschiedlichen Räumen, wie zum Beispiel dem öffentlichen Raum. Mich interessiert diese Aktionskraft, die man als Person innerhalb der Gesellschaft hat. Ich funktioniere in Rudelsystemen, zum Beispiel in meiner Tanzcrew HoS (Hood of Sisters) und in der Hiphop-Community im Allgemeinen.

Wie lange lebst Du schon in Düsseldorf und wie war Dein Weg hierher? Ich lebe seit drei Jahren hier. Meine Reise hierher war mit vielen Umwegen verbunden. Meine Familie und ich sind aus Wolgograd, Russland, nach Würzburg emigriert. Das war schwierig, weil der Umgang mit Immigrant*innen in Bayern ganz anders ist als in NRW, sehr viel weniger offen und alternativ. Deshalb bin ich nach dem Abitur sofort weggezogen. Ich wollte Französin sein und bin mithilfe eines Stipendiums auf Forschungsreise nach Frankreich gegangen. Mein erstes Studium in Halle hatte noch nichts mit Kunst zu tun. Letztlich bin ich aber durch meine ständigen Forschungsreisen in der Mongolei und ganz Russland doch im künstlerischen Bereich gelandet. 2018 war ich mit dem Deutschen Forschungsbund bei einer Reise über den Atlantik. Dabei war ich von der Diaspora meiner Familie getrieben und kam schließlich in der Gonzalez-Foerster-Klasse der Kunstakademie an. Es hat gedauert, bis ich beschloss, dass kein Weg für mich an der Kunst vorbeiführt.

In welchen Bereichen bist Du kreativ tätig und mit welchen Themen beschäftigst Du Dich? Ich setze eigentlich immer an meiner Biographie an, weil viele Fragen, die ich mir bei meinen Forschungen stelle, sich auf meine Migrationsgeschichte beziehen. Im zweiten Zug erforsche ich eine globale Körpersprache mittels Gesten aus dem Urban Dance. Dabei interessiert mich, wie eine Sprache auf körperlicher und interaktiver Ebene funktioniert, durch zum Beispiel Choreographien, Momente oder Orte, die ich aktiviere. Deshalb arbeite ich auch nicht so gern in Galerieräumen, sondern versuche rauszukommen und zu dokumentieren. Während ich mit den Crews trainiere, sehe ich die vielen Migrationsgeschichten direkt. Wir sprechen ohne Worte mithilfe von Nähe, Vibration und Schwingungen – so entsteht eine Intensität des Momentes.

Es handelt sich um einen kulturellen Schmelztiegel. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Kultur außerhalb der Akademien passiert, in subkulturellen Räumen. In den Institutionen wird präsentiert, aber die Kultur selbst entsteht in nicht so cleanen Räumen. Deshalb möchte ich eigene Plattformen für Künstler*innen erreichen, die keinen Zugang zu diesen repräsentativen Orten haben, weil sie vielleicht weniger akademisch in ihrer Kunstform sind. Eine andere Frage, die ich mir stelle, ist, wie sollen kreative, künstlerische, wahre Energien – eine Institution mit ihren alten, festgefahrenen Werten überleben? Dort wird eine bestimmte Vorstellung von Erfolg vermittelt, bei der der eigene Name im Vordergrund steht. Das ist meiner Meinung nach sehr einsam, egozentrisch und ganz und gar nicht aktuell in Anbetracht der globalen Diskurse.

Als Künstlerin kollaborierst Du oft mit anderen Kreativen. Wonach hältst Du dabei Ausschau und welche vergangenen Arbeiten haben Dich besonders geprägt? Mir ist wichtig, das zu tun, was ich eigentlich nicht so gut kann. So hat es sehr lang gedauert, bis ich mich als Tänzerin identifiziert habe. Während der letzten zwei Jahre habe ich mich zunehmend mit Körpern auseinandergesetzt. Ich war auch schon vorher in der urbanen Szene aktiv durch Breaking und tanze seit etwa vier Jahren intensiver. Ich kollaboriere besonders gern innerhalb der urbanen Szene, das für mich der Schmelztigel der Kulturen ist. Mit dieser Szene kann ich mich identifizieren, weil es erstens ehrlich und weniger konstruiert als in anderen Bereichen der Kunst ist. Es geht um Freundschaften, Crews, gemeinsames Wachsen. Gleichzeitig sehe ich die Chance in meiner Rolle als Künstlerin, meine Fähigkeiten in diese Gruppen einzubringen und größere Projekte starten zu können. Ich kann eine Plattform für diese Menschen aufbereiten und sie sichtbar machen. Meine letzte Arbeit waren die “Three Flight Attempts”, “Drei Flugversuche”, die ich mit meiner Crew, den HoS, erstellt habe. Dabei habe ich einerseits mit Skulpturen einen Safe Space gebaut und andererseits mit Prothesen gearbeitet, da wir Menschen zwar nicht fliegen können, aber die Vorstellung davon und der Versuch, sich diese Fähigkeit anzueignen, sehr interessant sind.

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Es lohnt sich, am 15. April zur Eröffnung im Neuen Kunstraum um 18 Uhr zu kommen. Am Samstag wird Videokunst gezeigt und am Sonntag gibt es ab 15 Uhr eine große Jam, mit DJ und Tanz.

Dein aktuelles Projekt heißt “I sneezed on the beat and the beat got sicker”, eine Zeile des Liedes “Yoncé” von Beyoncé. Worum handelt es sich dabei? Die Line “I sneezed on the beat and the beat got sicker” steht für mich für Self Empowerment. Beyoncé drückt aus, wie sie mit Leichtigkeit über ihre Musik das Zeit- und Raumgefühl verändern kann. Unter diesem Motto steht das gesamte Ausstellungsprojekt, dem eine einjährige Recherche- und Netzwerkphase vorausging. Unser Ziel war es, Tänzerinnen vor allem aus dem Urban Dance, größtenteils aus NRW, zu porträtieren. Uns ist aufgefallen, dass in Battles oft nur die männliche Figur des Tänzers einen Platz findet, obwohl es viele aktive Frauen in der Szene gibt. So entstand die Porträtreihe mit Lina Thöne, Mustafa Fuzer und Erika Knauer, mit denen ich die Female Urban Dance-Szene interviewt habe. Die Ausstellung soll diese wunderbaren, kulturschaffenden Personen feiern und zum Nachdenken über das gemeinsame Handeln und das Aufleben neuer Dialoge anregen. Es lohnt sich, am 15. April zur Eröffnung im Neuen Kunstraum um 18 Uhr zu kommen. Am Samstag wird Videokunst gezeigt und am Sonntag gibt es ab 15 Uhr eine große Jam, mit DJ und Tanz.

Du hast selbst Wurzeln in der Ukraine. Wie sieht diese Verbindung genau aus? Meine Großmutter kommt aus Kiew, aber meine persönlichen Beziehungen zur Ukraine liegen weniger in meiner eigenen Herkunft begründet als in den Beziehungen zu ukrainischen Menschen, die ich in Deutschland kennengelernt habe. Meine Oma ist mit ihrer Mutter und ihrem Bruder vor den Nationalsozialisten aus Kiew nach Russland geflohen. Während der gesamten Kriegszeit waren sie unterwegs, zum Beispiel in Kasachstan und Sibirien. Als in Ingenieurin war sie außerdem auf der Suche nach Arbeit und hat in Wolgograd Wurzeln geschlagen. Da sie das Jiddische kennt, hat sie später sehr schnell Deutsch gelernt und es mir beigebracht. Ich habe sehr viele Freunde aus Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien oder aus der Ukraine; es verbindet uns, aus Post-Sowjet-Staaten zu kommen und eine Migrationsgeschichte und Sprache zu teilen.

Wie hast Du die letzten Wochen erlebt und was empfindest Du angesichts des Krieges in der Ukraine? Ich möchte versuchen, nicht allzu emotional zu antworten, weil es mir sehr schwer fällt. Ich bekomme einerseits diesen Kampf für so viele Leben in Deutschland mit und bin in aktivistischen Kreisen unterwegs. Andererseits höre ich von der panischen Angst meiner alternativ in Moskau lebenden Freunde davor, nie wieder ihre Freiheit und ihr Leben zurückzuerlangen. Wir, meine Familie und Freunde und ich, versuchen uns von dieser Starre zu befreien und gegen die Identitätskrise vorzugehen. Es muss gehandelt werden, um so viele Menschenleben wie möglich zu retten.

Ich kenne praktisch keine Person in meinem Umfeld, die sich mit dem Angriffskrieg Russlands identifiziert, aber das russische Fernsehen, das auch in Deutschland ausgestrahlt wird, hat einen unglaublichen Einfluss auf die Menschen. Das zu sehen, löst ein Gefühl von Handlungsunfähigkeit aus. Deshalb versuchen wir, uns immer wieder neu zu organisieren. Ich werde als Russin identifiziert. Meine Mutter leidet sehr unter dieser Identität, aber zum Glück ist meine Verbindung dazu durch unsere komplizierte Migrationsgeschichte schwächer. Wir versuchen außerdem, Menschen in Russland zu helfen, aus diesem Regime herauszukommen. Sie sind damit nicht einverstanden und können mit der entstandenen und absurd schweren Schuld kaum leben, weil sie das Gefühl haben, nicht genug getan oder früh genug gehandelt zu haben. Mein Ziel ist es, Menschen zu helfen, unabhängig von Nationalitäten.

Wirken sich die jüngsten Ereignisse auf Deine Kunst aus? Falls ja, inwiefern? Ich mache Kunst, indem ich Plattformen kreiere. Zusammen mit anderen Künstler*innen und Tänzer*innen bin ich dabei, eine Residency zu planen. Diese wird den Namen “Chernozem” tragen, das ist russisch für “Schwarzerde”, die fruchtbarste Erde der Welt. Mit “Chernozem” möchten wir einen fruchtbaren Boden für das Zusammensein, das gemeinsame Wirken und Performen und dafür, im öffentlichen Raum körperlich zu sein, schaffen. Wir wollen gegen diese Erstarrung arbeiten, auch innerhalb der deutschen Bevölkerung, die immer noch vom Trauma des Zweiten Weltkrieges geprägt ist.

Der Krieg rückt näher und die Deutschen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Das merke ich in den Zügen von Berlin nach Düsseldorf. Die Abteile sind voller flüchtender Menschen und die Deutschen sitzen dazwischen, verunsichert und sprachlos. Sie wissen nicht, wie sie mit diesen Menschen interagieren sollen, weil sie ihr eigenes Kriegstrauma noch gar nicht verarbeitet haben. Vieles, was jetzt an Migrationsarbeit passiert, wird natürlich unsere Aufgabe sein [die der russisch-sprachigen Menschen]. Die Deutschen helfen eher über Spenden an die Organisationen. Wir werden die Nähe, die zwischen uns durch eine gemeinsame post-sowjetische Mentalität besteht, nutzen. Meine Familie hat zum Beispiel vier Familien aus der Ukraine aufgenommen.

 Was kann Kunst in schrecklichen Zeiten wie diesen bewirken? Auf Instagram können wir viele Zeichen gegen den Krieg sehen. Vor kurzem ist dieser rote See vor der russischen Botschaft aufgetaucht, ein Blutsee. Das sind Leute, die es auf intelligente Art und Weise schaffen, den Blick der Öffentlichkeit zu lenken. Das sind nicht zwangsläufig Künstler, sondern Menschen, die mithilfe von Aktionen Zeichen setzen und ihren Protest ausdrücken. Ich glaube, dass in unserer Realität Bilder und Zeichen sehr wichtig sind, weil sie eine Meinung und eine Denkweise effektiv lenken können. Das macht sie aber auch gefährlich. Wir als Künstlergemeinschaft können viele Aussagen treffen, aber auf eine offene Art.

Ich zum Beispiel mache keine Videokunstarbeit zu diesem Thema, sondern versuche, mit dem mir zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst viele Menschen hierher einzuladen und sie wirklich zu erreichen. Kunst ist immer ein wichtiges Tool, aber es muss sich an der Lebensrealität orientieren. Es ist nicht wichtig, die eine tiefsinnige Skulptur zu kreieren, sondern möglichst vielen mit den eigenen Fähigkeiten, der eigenen Stimme und den Plattformen, die man als Künstler*in hat, gegen den Krieg und den Schmerz zu arbeiten.

Wir hatten bereits über Deine Pläne für eine Residenz für geflüchtete Menschen aus der Tanz-Community gesprochen. Wie steckt dahinter und wie weit ist die Entwicklung des Projekts schon vorangeschritten? Kreative Menschen aus der urbanen Szene, die hierherkommen und im öffentlichen Raum ein Zeichen setzen und performen möchten, sollen in unserer Residenz die Chance dazu bekommen. Das können vor allem Menschen aus der Ukraine sein, aber auch russische Künstler*innen bzw. alle, die den Dialog suchen. Momentan sammeln wir Geld bei Benefizkonzerten und versuchen unser Netzwerk möglichst groß zu spannen und das Tanzhaus, das FFT und den PACT Zollverein als Unterstützer zu gewinnen.

Wir möchten vielen Leuten eine Anlaufstelle bieten, um Kunst zu machen oder einfach zu sein, einen neuen Alltag zu beginnen. Es wird eine sehr offene Residenz werden, bei der nicht die Erarbeitung einer perfekten Choreographie das Ziel ist, sondern die körperlichen Prozesse im Vordergrund stehen und einfach mal durchzuatmen. Das ist eine der besten Arten, mit Traumata umzugehen. Manchmal muss man aktiv werden und physisch arbeiten, um der Ohnmacht des Krieges entgegenzuwirken, statt nur unendliche Gespräche zu führen und zu trauern.

Kennst Du bestimmte Projekte oder Organisationen, die sich für die Ukrainehilfe einsetzen und unsere Leser*innen unterstützen sollten? Der Verein meiner Mutter “Mrija”! Das sind Menschen, die viele Freunde und Verwandte in der Ukraine haben und alles dafür geben, sie in Sicherheit zu bringen und sie mit Medikamenten zu versorgen. “Mrija” befindet sich in Würzburg und sammelt Spenden, um weiterhin LKWs mit Hilfeleistungen beladen zu können und Integrationshilfe in Deutschland zu leisten. Die Eingliederung der geflüchteten Menschen ist jetzt schon und wird auch in den nächsten Jahren Aufgabe der russischsprachigen Bevölkerung sein.

Was wünscht Du Dir für die Zukunft? Ich habe jedes Jahr gedacht, alles würde schon irgendwie ein bisschen besser werden. Es ist nicht so, dass ich heute den Glauben an die Menschheit verloren habe, aber es sieht momentan wirklich nicht rosig aus. Das, was ich mir von ganzem Herzen wünsche, ist, dass wir besser zusammenarbeiten. Das gilt nicht nur, wenn es um das Thema Krieg geht. Es wird so viel Immigration bedingt durch den Klimawandel und Ressourcenknappheit geben. Dementsprechend werden wir Probleme bald nur noch mithilfe von Teamwork angehen können, unabhängig von Ländergrenzen und Fremdenfeindlichkeit. It’s Hiphop, one Love!

Vielen Dank!

Hier geht es zum Verein „Mrija“:
mrija-ua.de

Alle weiteren Infos zum Ausstellungsprojekt “I sneezed on the beat and the beat got sicker” findet Ihr hier…

Interview & Text: Antonia Lauterborn
Fotos: siehe Bildbeschreibung 
(c) THE DORF, 2022

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