„EULENKOPF“ VON MERLE FORCHMANN

Merle Forchmann © Katja Illner

In den Siebziger Jahren entstanden in ganz Deutschland Studenteninitiativen, die sich unter anderen in Obachlosensiedlungen engagierten. Eine Initiative gründete sich in Gießen in der Wohnsiedlung „Auf dem Eulenkopf“. Der renommierte Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter schloss sich dieser Initiative an. Heute, 50 Jahre später, begibt sich seine Enkelin auf fotografische Spurensuche. Fotografin und Filmemacherin Merle Forchmann beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit allem zum Thema Stadt. Ihr neuestes Crowdfunding-Projekt „Eulenkopf“ gibt dokumentarische Einblicke und Interviews über die Siedlung und seine Bewohner*innen. Über die Crowdfunding-Plattform „Startnext“ wird aktuell Geld für die Finanzierung des Buchdrucks gesammelt. Wir haben sie auf ein Gespräch getroffen und mit ihr über ihre Arbeit gesprochen.

Stell dich bitte einmal kurz vor. Wer bist Du, was machst Du, und was ist Dein Bezug zu Düsseldorf? Mein Name ist Merle und ich arbeite als freie Fotografin und Dokumentarfilmerin. Ich bin in Düsseldorf geboren, lebe und wohne hier.

Kannst Du uns in ein paar Sätzen erklären, was hinter Deinem Projekt steckt? Während des ersten Lockdowns habe ich überlegt, an welchem Fotoprojekt ich als nächstes Arbeiten könnte. Gerade hatte ich mit meiner Kollegin Eva-Maria Burchard und Jonny Bauer das zweite Fotokunstmagazine in Kooperation mit dem Stadtplanungsamt über den Stadtteil Garath herausgegeben. Während meiner Überlegungen fiel mir dann wieder ein, dass mein Großvater sich in den 70er Jahren einer Student*inneninitiative anschloss. Er war damals der Leiter der psychosomatischen Klinik in Gießen: Horst- Eberhard Richter.

In dieser Zeit gründeten sich viele Student*innen-Initiativen in Deutschland, einige haben sich in Psychiatrien engagiert und andere in sogenannten Obdachlosensiedlungen. Die Siedlung „Auf dem Eulenkopf“ war so eine Obdachlosensiedlung. Die Menschen wurden dort von der anderen Stadtbevölkerung segregiert und lebten in prekären Verhältnissen. Die Initiative solidarisierte sich mit den Bewohner*innen und unterstützte sie im Kampf zur Selbstbefreiung. Daraufhin verbesserten sich ihre Lebensumstände. Das kam mir dann plötzlich wieder in den Sinn und hat mich beeindruckt. Ich wollte wissen, was aus der Wohnsiedlung geworden ist – 50 Jahre später.

Wie haben die Bewohner*innen der Siedlung reagiert, als sie von dem Projekt erfahren haben? Zunächst habe ich die Sozialarbeiter*innen, die in der Siedlung in der Gemeinwesenarbeit tätig sind, angeschrieben. Durch sie habe ich den ersten Zugang in die Siedlung erhalten. Sie kannten die Bewohner*innen gut und konnten mich vernetzen. Das war sehr hilfreich. Der eigentliche Gatekeeper war dann aber schlussendlich mein Großvater. Alle, die damals bereits dort gewohnt haben, konnten sich noch gut an ihn erinnern. Die meisten waren damals Kinder. Das war dann ungefähr so: „Hallo, ich bin Merle. Ich bin Fotografin und möchte hier ein Fotobuch über den Eulenkopf machen.“ „Aha.“ „Ja, ich bin die Enkelin von Horst-Eberhard Richter.“ „Ach, du bist die Enkelin vom Professor Richter. Ja, dann komm´ mal rein. Willst du einen Cappuccino? “ Also so ungefähr. Es gab also direkt einen Anknüpfungspunkt.

Hast Du selbst Erfahrungen mit sozialer Ungleichheit gemacht? Die einzige soziale Ungleichheit, die ich erfahre, ist aufgrund meines Geschlechts. Allerdings bin ich eine weiße Hetero-Cis-Frau, die aus einer Akademiker*innen Familie stammt, also bleiben mir soziale Ungleichheiten erspart.

Was kann man tun, um Stadtvierteln zu helfen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden beziehungsweise um den Bewohner*innen Gehör zu verschaffen? Sich dafür stark machen, dass es generell bezahlbaren Wohnraum gibt, um Segregation zu verhindern. Und nicht über ein Stadtviertel urteilen, welches man nicht oder nur vom Hören-Sagen kennt. Ich bin immer wieder beeindruckt, auf welche interessanten Menschen ich treffe. Denn ich bin auch nicht von Vorurteilen und Schubladendenken bewahrt, so sind wir eben leider sozialisiert. Es ist wichtig, das immer wieder zu hinterfragen. Und um gegen mein Schubladendenken anzugehen, begebe ich mich in benachteiligte Quartiere, um zu zeigen: Schaut mal her! Hier wohnt eine 9-fache Weltmeisterin in Bankdrücken. Ich versuche Geschichten jenseits von Stereotypen abzubilden.

Welche Geschichte der Bewohner*innen hat Dich am meisten berührt? Ich habe mich gefreut, dass die Bewohner*innen, die ich kennengelernt habe, von der Studenteninitiative damals profitiert haben. Deren Kinder wiederum sind heute Bildungsaufsteiger*innen, machen Abitur, studieren oder haben Berufe, die sie mögen. Berührt bin ich von der Herzlichkeit der Bewohner*innen: Ich bin immer wieder für mehrere Wochen nach Gießen gereist. Anfangs habe ich mir ein Zimmer gebucht. Und am Ende des Projekts schlief ich dann bei Rosi in der Wohnsiedlung und wurde bei Gitti und John zum Thanksgiving eingeladen. Das werde ich nie vergessen.

Hast Du vor, ein ähnliches Projekt nochmal in anderen Wohnsiedlungen umzusetzen? Ja, bestimmt!

Vielen Dank!

Hier könnt Ihr das Projekt bis zum 23.04.2023 unterstützen. Die erfolgreiche Finanzierung wird in die Druckkosten des Fotobuchs investiert, welches im Mai erscheint.

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Text: Valentina Görke
Bilder: Startnext / Katja Illner
Layout und Herausgeber: Jonny Bauer
© THE DORF 2023

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