Stellt euch vor, es ist 2022 und Frauen sind im Musikbusiness immer noch gnadenlos unterrepräsentiert. Leider wahr. Leider schlimm. Auch wenn Superstars wie Beyoncé, Lizzo oder auch Kate Bush an der Spotify-Spitze stehen: Schaut man mal etwas genauer hin bei Bands oder Festivals Bookings, sind FLINTA in der Minderheit. FLINTA meint Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen und damit all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden. Für deren Sichtbarkeit engagiert sich die Düsseldorfer Konzertreihe fem_pop. Gegründet wurde sie vom gleichnamigen Kollektiv, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, FLINTA wortwörtlich eine Bühne zu geben und sie in der Musikszene zu vernetzen.
Support ist das Stichwort – nicht nur zum Anheizen bekannter Bands und Solo-Acts, sondern im gemeinsamen Wachstum und Widerstand gegen patriarchalische Strukturen. ”Bildet Banden!“ sagt auch die Düsseldorfer Musikerin Selena, die aktuell mit ihrem Solo-Projekt Modular durchstartet. Sie und drei weitere wahnsinnig tolle Künstlerinnen der Düsseldorfer Musikszene stellen wir hier und im THE DORF THE MAG No. 6 vor – von Pop bis Rap, von Psychedelic zu Electronic. Sounds und Stile so divers und experimentell, wie jede einzelne ihrer Seelen. Lest und hört selbst – unsere Forever Girl Crushes.
>>Please scroll down for English version!<<
Name: Hatice Yurdakul
Künstlername: TICE
Alter: 37
Beruf/Werdegang: Künstlerin
Website: TICESOUND.XYZ
Instagram: @ticesound
”Mit meiner Stimme kommen nicht alle klar“
Freischaffende Künstlerin, Rapperin, Poetin. Tice hat keine Angst vor großen Gefühlen und knallharten Worten. In der maskulin geprägten Hiphop-Szene rappt die 37-Jährige lieber authentisch und unverblümt übers Zwischenmenschliche, als sich übersexualisert vermarkten zu lassen. Denn Tice ist ”street“– genauer gesagt Kiefernstraße – und lässt sich von nichts und niemandem verbiegen. Was sofort auffällt: Ihre markante, tiefe und raue Stimme, mit der sie auch schon mal aneckt.
Dein Stil in einem Wort? Außergewöhnlich. Ich habe schon einen sehr eigenen Sound entwickelt und eine eigene Handschrift. Direkt. Schonungslos. Deep. Ich schreibe tief aus dem Herzen heraus und bin eine der wenigen Frauen, die übers Zwischenmenschliche rappt. Ich setze mich mit meiner Gefühlswelt auseinander und reflektiere viel. Was Emotionen angeht, nehme ich kein Blatt vor den Mund.
Besonders Deine markante Stimme fällt auf. Wie reagieren Menschen darauf? Meine Stimme hat ein ganz spezielles Timbre. Manche mögen sie sehr, andere nicht. Ich klang schon immer anders. Schon früh in der Kindheit musste ich lernen, dass ich eine besondere Stimme habe und wurde dafür oft gehänselt. Als Teenager erkannte ich dann, dass diese Stimme wie gemacht ist für Rap. So habe ich gelernt, mit ihr umzugehen. Mit meiner Stimme kommen aber nicht alle klar. Mir wird im Alltag oft unterstellt, dass ich aggressiv bin.
Wie hast Du mit Rap angefangen? Ich komme aus einer sehr musikalischen Familie. Mein Vater spielt Baglama, die türkische Mandoline, und hat uns Kindern oft vorgespielt und uns Musik nähergebracht. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder habe ich mit 10 Jahren dann Hop-Hip entdeckt, Durch das 1995er Tape der deutsch-türkischen Formation Cartel. Die Faszination, auch Kulturelles in den Rap einfließen zu lassen, war somit früh entdeckt. Es waren die Zeiten von MTV und Viva, man hat beim Radio angerufen und sich Songs gewünscht und dann auf Kassette aufgenommen.
Wer waren Deine Vorbilder? Meine US-Vorbilder waren der kürzlich verstorbene DMX, Lauryn Hill und Tupac. Ich habe ihre Texte gerappt, wollte aber immer wissen, was genau sie singen. Was sagen sie, was wollen sie damit vermitteln? Message war mir wichtig. Wieso wird so viel gesprochen und was genau wird da erzählt? In Verbindung mit meinem Migrationshintergrund, habe ich auf das Sprachliche viel wert gelegt. Als Rapperin kann ich bis heute die deutsche Sprache mit meiner eigenen Message verbinden.
Wie beschreiben Dich Deine Fans? Frauen schreiben mir immer wieder, dass sie dankbar sind für meine Musik und dass meine Texte ihnen sehr viel Kraft geben. Dass ich Dinge ausspreche, die sie so nicht hätten sagen können. Dass ich Stärke vermittele. Darin sehe ich meinen Ansporn, Musik zu machen: Themen, die nicht nur ich selbst verarbeite, sondern die auch anderen behilflich sein können. Aber auch meine männlichen Fans teilen mir Dank und Support mit. Ich führe in meiner Kunst stets einen Dialog.
Wenn Du gerade keine Musik machst, dann….Arbeite ich oder bin mit meinem Hund unterwegs. Ich liebe meinen Hund und verbringe gerne Zeit mit ihm, aber auch mit Familie und Freunden. Natürlich bin ich auch oft im Studio. Generell bin ich ruhiger geworden. Die Pandemie hat mich etwas ausgebremst (lacht). Ich gehe nicht viel feiern am Wochenende, weil ich dann meist unterwegs bin oder auftrete.
Welche Erinnerungen hast Du an Deinen allerersten Auftritt? Da war ich 15 und stand vor dem Obi Bauhaus in Velbert. Dort gab es die ”Biber Beats“ mit Bühne und einem Wettbewerb. Mein Bruder ist aufgetreten mit seinen Kumpels und hatte mich mitgenommen. Ich war extrem nervös und kleinlaut, weil natürlich alle älter waren. Vor denen hatte ich Respekt. Nachdem alle anwesenden Kameras weggepackt wurden, habe ich mich dann auf die Bühne getraut und einen 16er Part gerappt – das waren vielleicht 60 Sekunden – und währenddessen die ganze Zeit auf meine Schuhe geguckt. Ich hab mich so geschämt und gleichzeitig so gefreut, auf der Bühne zu stehen.
Dein Weg zum Erfolg war steinig. Was hast Du gelernt? Ich bin keine Businessfrau, sondern totaler Bauchmensch und gehe mit Herz an meine Projekte. Da gerät man schon mal in Situationen, die nicht so vorteilhaft sind im Nachhinein. Ich gehe schon mal per Handschlag Projekte ein, und kann emotional nicht immer unterscheiden, ob es jemand gut mit mir meint.
Wie bist Du in der maskulinen Rapszene als Frau aufgenommen worden? Als ich 2014 meine erste EP aufnahm, gab es außer mir nicht so viele Frauen im Rap. Schwesta Ewa war am Start und wurde durchgehypt und es gab noch ein paar ältere Rapperinnen wie Cora E und Pyranja, die heute nicht mehr wirklich aktiv sind. Interesse an einer weiblichen Künstlerin war zwar da, man wurde aber in der Männerwelt gedrückt. Es wurde über Texte rumdiskutiert, darüber was eine Frau sagen darf und was nicht. Man saß im Studio zwischen einer Meute von Männern und bekam einfach so ungefragt einen Tipp. Wenn sie einen dazu bekommen haben, tatsächlich ein Wort zu ändern, wurde gefühlt gleich eine Siegesfahne geschwenkt. Und es gab sexualisierte Dinge. Momente, in denen ich gemerkt habe: Hier geht hier nicht um Musik, es geht darum, dass ich eine Frau bin.
Wie gehst Du mit anderen Frauen im Rap um? Ich führe keinen Konkurrenzkampf. Ich gönn es allen. Jede hat ihr Standing verdient. Ich will ernstgenommen werden als Künstlerin und nicht, weil man meinen Intimbereich begaffen kann. Ich sexualisiere mich nicht und will mich nicht sexualisieren lassen. Ich gelte als Frau von vornerein als schwierig und eigen, weil ich das nicht mir machen lasse. Es gibt viele gute Künstlerinnen, die bei dem Fluss der Vermarktung einfach keine Chance haben. Es funktioniert vielleicht, wenn man sich anpasst und macht, was alle machen. Heute bedeutet das pinke Haare und ein Gesichtstattoo. Aber ich lasse mich von niemanden in eine Richtung biegen.
Was wünscht Du dir von der Rapszene? Dass sie gute Musik schaffen, weniger über die Fehler anderer sprechen und sich auf Support und ein gutes Miteinander konzentrieren. Und dass der eine oder andere sich wieder daran erinnert, was ”each one, teach one“ bedeutet.
Wo trifft man Dich in Düsseldorf? Mit meinem Hund am Rhein in Lörick. Früher war ich oft im Schlachthof unterwegs oder auf der Kiefernstraße, wo ich viele Freunde und Bekannte habe.
Mit wem würdest Du gerne ein Projekt machen? Ich würde supergerne mit dem Produzenten Bazzazian zusammenarbeiten. Er produziert Beats u.a. für Haftbefehl. Das wäre ein Traum.
Mit wem ein Bier trinken? Mit Helge Schneider.
Was bringt die Zukunft? Ich hoffe, ganz viel Zufriedenheit und Liebe. Und Frieden für uns alle.
Vielen Dank!
Text: Karolina Landowski
Fotos: Katja Kuhl
© THE DORF 2023
English version:
Imagine it’s 2022 and women are still mercilessly underrepresented in the music business. Sadly this is true. Even if superstars like Beyoncé, Lizzo or Kate Bush are at the top of Spotify: If you take a closer look at bands or festival bookings, FLINTA are in the minority. FLINTA means women, lesbians, intersexual, non-binary, trans and agender people and thus all those who are patriarchally discriminated against because of their gender identity. The Düsseldorf concert series fem_pop is committed to their visibility. It was founded by the collective of the same name, which has made it its task to literally give FLINTA a stage and to network the artists in the music scene. Support is the keyword – not only to fuel wellknown bands and solo acts, but in collective growth and resistance against patriarchal structures. “Unite & fight!” also says Düsseldorf musician Selena, who is currently taking off with her solo project Modular. In this issue, we present her and three other incredibly great artists from the Düsseldorf music scene – from pop to rap, from psychedelic to electronic music. Sounds and styles as diverse and experimental as each of their souls. Read and listen for yourself – our forever girl crushes.
Name: Hatice Yurdakul
Artist name: TICE
Age: 37
Profession: Artist
Website: TICESOUND.XYZ
Instagram: @ticesound
“Not everyone can handle my voice.”
Freelance artist, rapper, poet. Tice is not afraid of big feelings and hard-hitting words. In the masculine hip hop scene, the 37-year-old prefers to rap authentically and bluntly about interpersonal relationships rather than be marketed in an over-sexualised way. Because Tice is “street” – Kiefernstraße to be precise – and doesn’t allow herself to be bent by anything or anyone. What is immediately noticeable: her distinctive, deep and rough voice, with which she also sometimes makes a splash.
Your style in one word? Extraordinary. I have already developed my own sound and my own signature. Direct. Ruthless. Deep. I write deeply from the heart and am one of the few women who raps about interpersonal issues. I deal with my emotional world and reflect a lot. When it comes to emotions, I don’t mince words.
Your distinctive voice is particularly striking. How do people react to it? My voice has a very special timbre. Some like it very much, others don’t. I have always sounded different. Early in childhood I had to learn that I had a special voice and was often teased for it. Then, as a teenager, I realised that this voice was made for rap. That’s how I learned to deal with it. But not everyone can handle my voice. I’m often accused of being aggressive in everyday life.
How did you start with rap? I come from a very musical family. My father plays the baglama, the Turkish mandolin, and often played it for us children and introduced us to music. Together with my older brother, I discovered hip hop at the age of 10, through the 1995 tape of the German-Turkish group Cartel. The fascination with incorporating cultural elements into rap was discovered early on. It was the time of MTV and Viva, you called the radio and asked for songs and then recorded them on cassette.
Who were your role models? My US idols were the recently deceased DMX, Lauryn Hill and Tupac. I rapped their lyrics, but I always wanted to know what exactly they were singing. What are they saying, what do they want o convey? Message was important to me. Why are they talking so much and what exactly are they saying? In connection with my migration background, I put a lot of emphasis on language. As a rapper, I can still combine the German language with my own message.
How do your fans describe you? Women write me again and again that they are grateful for my music and that my lyrics give them a lot of strength. That I say things they couldn’t have said that way. That I convey strength. I see this as my incentive to make music: Topics that not only I process myself, but that can also be helpful to others. But also my male fans communicate gratitude and support to me. I always have a dialogue in my art.
Your road to success was rocky. What have you learned? I’m not a businesswoman, but a total gut person and approach my projects with heart. Sometimes you get into situations that are not so advantageous in retrospect. I sometimes enter into projects with a handshake, and I can’t always tell emotionally whether someone means well with me.
How have you been received in the masculine rap scene as a woman? When I recorded my first EP in 2014, there weren’t that many women in rap besides me. Schwesta Ewa was starting and getting hyped and there were a few older female rappers like Cora E and Pyranja who aren’t really active anymore. Interest in a female artist was there, but one was pressed in the male world. There were discussions about lyrics, about what a woman is allowed to say and what not. You sat in the studio between a pack of men and just got an advice without being asked. If they got you to actually change a word, it felt like a victory flag was waved right away. And there were sexualised things. Moments when I realised: This is not about music, this is about me being a woman.
What do you wish from the rap scene? That they create good music, talk less about other people’s mistakes and concentrate on support and good togetherness. And that one or the other remembers again what “each one, teach one” means.
Thank you very much!
THE DORF • THE MAG is part of the #urbanana project by Tourismus NRW