Auf und ab tanzen die Linien, formen geometrische Flächen und figurative Elemente. Intensives Rot und blasses Gelb sitzen auf dunklem Grund. Strahlendes Blau hebt sich aus dunkelgrünem Dickicht. Dazwischen blitzen Ornamente: Sichelmond, Gitter, Blumen oder Fische. Manches lässt sich identifizieren, anderes entzieht sich einer festen Zuschreibung. Das dicht schraffierte Bild aus vermeintlichen Pinselstrichen erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als Gewebe aus akkurat gespannten Fäden. Denn die junge Künstlerin Hyunjin Kim (Jahrgang 1994) vermag es, mit der Nadel wie mit einem Pinsel auf die Leinwand zu malen. So wirken die großformatigen Bilder aus der Ferne fast wie Gemälde. Tatsächlich aber spinnen sich lange Fäden über die Leinwand, bilden ein dichtes Fadengeflecht. Die malerische Geste ist dabei immerzu erkennbar, auch wenn sie eigentlich genäht ist.
In Hyunjin Kims Atelier in Flingern herrscht entspannte Atmosphäre. Licht strömt in die ebenerdig gelegenen Atelierräume, im Hintergrund läuft Musik. Bei der Arbeit hört sie ebenfalls gerne Musik oder Podcast, erläutert die Künstlerin. Während sie erzählt, fliegen ihre Finger mit Nadel und Faden über eine kleinformatige Leinwand. Zwar arbeitet Kim mit Vorliebe im großen Format, doch die 20 × 20 cm großen Arbeiten stellen eine willkommene Abwechslung dar. In ihnen lassen sich Ideen viel unmittelbarer umsetzen: „Hier kann ich Eindrücke viel schneller verarbeiten und zu einem eigenen Bild werden lassen“. Die großformatigen Textilarbeiten dagegen erfordern Zeit. Zuweilen näht Kim über Monate hinweg an nur einem einzigen Bild. Dann steht Kim auf, steigt über eine Treppe hinab in den eigentlichen Arbeitsraum samt Lager, welches sie sich mit Künstlerin und Freundin Laura Aberham teilt. In die hohen Räume des gemeinsamen Ateliers ist eine Decke eingezogen, teilt den Arbeitsbereich in Ober- und Untergeschoss. Schnell hat Kim die riesigen Leinwände aus dem Lager hervorgeholt, platziert diese an der Wand und auf dem Boden. Es handelt es sich um Werke, die Teil ihrer Abschlusspräsentation an der Düsseldorfer Kunstakademie waren.
Kim hat im Jahr 2021 – mitten in der Pandemie – ihren Abschluss bei Professor Thomas Scheibitz gemacht. Die in Tongyeong in Südkorea geborene Künstlerin wuchs in Hilden auf, ist für das Studium nach Düsseldorf gezogen und nach dem Abschluss vorerst geblieben. Grundsätzlich kann sie sich jedoch einen Ortswechsel vorstellen: „Es wäre schon ganz schön, irgendwann nochmal in einer anderen Stadt zu wohnen“. Nach ihren Lieblingsorten in Düsseldorf gefragt, erwidert sie lachend: „Am meisten halte ich mich im Velvet und im Fit X auf“. Der Akademie gänzlich den Rücken gekehrt hat sie allerdings nicht. Seit 2021 studiert sie Kunst auf Lehramt und möchte in diesem Beruf auch tatsächlich tätig werden. Selbstbewusst erklärt sie: „Ich kann mir durchaus vorstellen, eine halbe Stelle als Lehrerin innezuhaben. Ich begreife diese Tätigkeit als sinnstiftende Aufgabe“. Je nachdem wie sich die künstlerische Karriere entwickelt, versteht sich.
Mit letzterer aber läuft es momentan richtig gut. Kim war zuletzt Teil der Gruppenausstellung „Der rote Faden – Follow the Thread“ im KIT – Kunst im Tunnel. Dort präsentierte sie gemeinsam mit drei weiteren künstlerischen Positionen ihre großen, abstrakten Werke an den Wänden und auf einer Stellage, welche sie sonst zur Fertigung ihrer Bilder im Atelier verwendet. Darüber hinaus wird sie von der Düsseldorfer Galerie JVDW von Galerist Jan van de Weyer vertreten, der beispielsweise auch David Benedikt Wirth im Programm hat und an Messen wie der Art Düsseldorf teilnimmt. Die Galerieräume bespielte Kim 2022 unter dem Titel „Eyes are sweating“ mit ihrer ersten Solopräsentation infolge des Abschlusses.
Seit mittlerweile sieben Jahren übt die Künstlerin ihre Technik mit Nadel und Faden aus. Das war aber nicht immer so, erzählt Kim: „Das hat sich erst während des Studiums entwickelt“. Zu Beginn des Studiums der Freien Kunst probierte sie zunächst diverse Techniken aus, erprobte sich bildhauerisch, installativ und fotografisch. Folgend schien sie mit der Malerei ihr Medium gefunden zu haben. Bald aber bemerkte sie, dass die Malerei sie nicht gänzlich erfüllte: „Also habe ich mir überlegt, wie ich die in mir wohnenden Bilder, mein Konzept von Malerei und Bildaufbau anders umsetzen könnte“. Die Arbeit mit dem Faden habe Kim schon seit längerer Zeit angezogen und so habe sich plötzlich alles ganz schlüssig angefühlt. Kim berichtet: „Ich hatte bereits ein Grundgespür zum Medium Faden und Textil“. Seitdem erforscht sie mit den Mitteln des Fadens die Möglichkeiten abstrakter Bildkomposition.
Die abstrakten Verwebungen finden ihren Ursprung im alltäglichen Leben der Künstlerin. In ihnen manifestieren sich persönliche Empfindungen, Eindrücke, Erinnerungen und Träume. Diese werden visuell transformiert und mittels farbigem Garn materialisiert. Kim: „Die Inhalte meiner Bilder sind sehr nah bei mir“. Obwohl persönlichen Ursprungs, lassen sich die Inhalte universell auf die Betrachtenden übertragen. Die nie genau definierten Narrative schreiben sich dabei ins Textil ein, lassen sich scheinbar entschlüsseln und zerfasern zugleich gedanklich in lose Fäden. Aufgrund des zeitintensiven Arbeitsprozesses fertigt Kim Vorzeichnungen auf dem Stoff an, zuweilen entwirft sie auch Landschaftselemente auf Papier. Das dient allerdings lediglich als Basis für sich über die Dauer der Produktion entwickelnde Bildelemente. Kim: „Trotz der Nähtechnik ist es ein sehr freier Prozess“. An den verschiedenen Werken arbeitet sie zumeist parallel, fertigt neben einer großen Arbeit gleichzeitig kleine Bilder an. Den Herstellungsprozess begreift die Künstlerin als mental und körperlich intensiv, aber auch als meditativ, sogar persönlichkeitsfördernd: „Man lernt Ausdauer, Geduld, Beständigkeit, aber auch Bodenständigkeit“. Sie beschreibt das Nähen als ein mit dem Laufen von weiten Strecken vergleichbares Gefühl.
Die Arbeit mit Textil wird gemeinhin als weiblich konnotiertes Metier begriffen. Davon aber möchte sich die Künstlerin lösen, da es ihr weniger um das Nähen als Fleißarbeit, sondern als Medium ihrer Wahl geht. Kim dazu: „Mein Selbstverständnis entspricht ohnehin dem einer unabhängigen und selbstständigen Frau, sodass ich nicht den Drang verspüre, dieses Thema in mein künstlerisches Schaffen einzubeziehen“. Die Qualität ihrer Arbeiten spricht für sich, indem ihr Farbverläufe, Überlagerungen von Farbfeldern und Übergänge mit der Nadel gelingen. Die intensive Farbigkeit der Großformate wirkt zudem nie schwermütig, sondern entwickelt vielmehr eine großzügige Wärme. Manchmal legt sich die Farbe opak, dann wieder transparent auf die eigens bespannten Leinwände. Kim erläutert: „Es lässt sich sehr viel aus der Malerei in diese Technik übertragen“. Momentan arbeitet sie an Werken, die vom 15. bis zum 17. November 2024 im Salon der Gegenwart in Hamburg zur Präsentation gelangen.
Der Beitrag erschien im neuen THE DORF THE MAG No. 8 – das Magazin könnt Ihr hier auf shop.thedorf.de bestellen.
Text: Julia Stellmann
Foto: Natasha auf’m Kamp
© THE DORF 2024