„Normale Kartoffeln auf die Eins“: Mit dem Ranking der Kartoffelspeisen ging Nationalspieler Florian Wirtz vor ein paar Wochen viral. In der Tat haben die beliebten Knollen einiges zu bieten. Das zeigt auch das historisch-kulinarische Forschungsprojekt „Von der Girlande der Königin Marysieńka zum Kartoffelsalat. Die Kartoffel in der polnischen und deutschen kulinarischen Tradition“ des Polnischen Instituts Düsseldorf am 9. September 2024 im Schloss Benrath. Das Programm umfasst unter anderem eine kulinarische Vorführung und Verkostung mit Esskulturforscher:innen und Historiker:innen aus Polen, Deutschland und Österreich. Es ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Kultureinrichtungen: dem Palastmuseum Wilanów, dem Polnischen Institut Düsseldorf, der Stiftung Schloss und Park Benrath sowie dem Sternerestaurant Agata‘s, das von der Polin Agata Reul geführt wird. Den Abend am 9. September moderiert Dr. Marta Sikorska, Wissenschaftlerin an der Nikolaus-Kopernikus-Universität Thorn. Wir haben sie zum Interview getroffen und uns mit ihr vorab über ihre liebsten Kartoffelgerichte und die Geschichte der Knolle unterhalten.
Das Projekt soll die Aufmerksamkeit auf die Kulturgeschichte des Gemüses lenken, das früher als Erdartischoke, Erdapfel oder Tartufel bekannt war und in der polnischen und deutschen Küche einen äußerst wichtigen Platz einnimmt. Ziel dabei ist es, die kulinarischen Traditionen und die vergangene Esskultur als Inspirationsquelle für die heutigen Generationen zu reflektieren. Heute sind Kartoffelgerichte aus der polnischen, deutschen oder österreichischen Küche nicht mehr wegzudenken, aber die Gewöhnung an dieses Produkt aus der Neuen Welt dauerte mehrere Jahrhunderte. Bevor sie in der polnischen und deutschen Küche populär wurde, wurde die Kartoffel als Zierpflanze kultiviert, die Botaniker und Eliten faszinierte. Marie Antoinette und Königin Marysieńka flochten sich sogar zarte Kartoffelblüten in ihr Haar. Dr. Marta Sikorska verrät im im Interview, was Euch bei der Veranstaltung am 9. September außerdem erwartet.
Erzähle uns kurz etwas zu Deiner Person. Ich bin Historikerin und habe mich auf die Kulturgeschichte des Essens und der Küche der frühen Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert) spezialisiert. Die Quellen, mit denen ich mich am häufigsten auseinandersetze, sind Kochbücher. Ich betrachte sie als kulturelle Texte, die etwas über die Werte der vergangenen Generationen, die damals vorherrschende Ästhetik, das Ideal des Geschmacks, Strategien der sozialen Distinktion durch Essen, das Konzept einer gesunden Ernährung und sogar religiöse Überzeugungen vermitteln. Aus einem Rezept kann man wirklich sehr viel herauslesen. Was wir als schmackhaft, gesund, einheimisch oder fremd betrachten, verändert sich im Laufe der Zeit. Es ist faszinierend, diese Veränderungen und ihre Ursachen auf den Seiten von mehrere hundert Jahre alten Büchern nachzuvollziehen.
Vor einigen Jahren habe ich meine Dissertation über kulinarische und ernährungsbezogene Vorstellungen in mehreren polnischen und deutschen Kochbüchern aus dem 17. Jahrhundert verteidigt. In einem Kapitel meiner Doktorarbeit ging es um die Zusammenhänge zwischen polnischen und deutschen Kochbüchern. Ich war völlig erstaunt über die große Beliebtheit von Rezepten mit dem Vermerk „auf polnische Art“ in elitären deutschen Kochbüchern aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Das beliebteste Rezept ist das für einen Hecht auf polnische Art in einer gelben Safransauce. Es galt als ein adäquates Gericht für Empfänge und Hochzeiten. Interessanterweise ist es heute sowohl in Polen als auch in Deutschland in Vergessenheit geraten.
Ich bin an der Fakultät für Historische Wissenschaften der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń tätig, einer wunderschönen Stadt, die für ihren Lebkuchen, Kopernikus und die zum UNESCO-Kulturerbe gehörende Altstadt bekannt ist. Zurzeit bin ich mit Verwaltungs- und Verlagsangelegenheiten beschäftigt, aber ich schätze mich sehr glücklich, dass ich mit Kultureinrichtungen zusammenarbeiten kann, die sich für die Geschichte des Essens und die Bewahrung des kulinarischen Erbes interessieren, sowie mit Köchen und Köchinnen, die sich von alten Rezepten inspirieren lassen wollen.
Andere beschäftigen sich mit Mode oder anderen historischen Gegebenheiten, wie wird man Forscherin der Esskultur und Geschichte? Geschichte war schon immer eine Leidenschaft von mir. Als ich für das Studium nach Toruń ging, hatte ich jedoch nicht erwartet, dass das Thema Essen mein Fachgebiet werden würde. Ich fühlte mich nie zur politischen oder militärischen Geschichte hingezogen, sondern zur Geschichte des täglichen Lebens, der Kultur oder der Anschauungen. Zufällig landete ich in einem Seminar von Professor Jarosław Dumanowski, der sich unter anderem auf die Geschichte der Mode spezialisiert hatte. Damals begann er, eine Gruppe von Student:innen und Doktorand:innen aufzubauen, die sich für die Erforschung historischer Kochbücher interessierten. Außerdem suchte er jemanden mit Deutschkenntnissen. Diese Gruppe erhielt später einen institutionellen Rahmen und wurde zum Zentrum für Kulinarisches Erbe der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń.
Dort lernten wir, alte kulinarische Texte zu lesen und zu analysieren. Zu unseren Seminaren kamen Köche und Köchinnen, Lebensmittelproduzent:innen sowie Mitarbeiter:innen von Kultureinrichtungen. Es war eine wunderbare Zeit. Damals begann auch unsere enge Zusammenarbeit mit dem Palastmuseum Wilanów. Das Museum wurde zum Herausgeber von Quelleneditionen alter polnischer Kochbücher, die unter der Redaktion von Professor Jarosław Dumanowski in der Reihe Monumenta Poloniae Culinaria zusammengetragen und veröffentlicht wurden. Das Palastmuseum Wilanów, das einst die Residenz von König Johann III. Sobieski war, verfügt über eine große Abteilung für historische Rekonstruktion, einschließlich der kulinarischen Rekonstruktion. Dort sind Pädagogen und Pädagoginnen sowie Köche und Köchinnen beschäftigt, die in ihrer täglichen Arbeit auf Inhalte altpolnischer Kochbücher zurückgreifen. Ihre kulinarischen Workshops und Freiluftveranstaltungen, wo man wahrlich königlich speist, erfreuen sich großer Beliebtheit.
Welche Rolle spielt Essen in Deinem Leben? Das Thema Kulinarik liegt mir sehr am Herzen, nicht nur beruflich. Ich bezeichne mich selbst als Foodie und Essen ist einfach mein Hobby. Seit einigen Jahren betreibe ich zusammen mit zwei Freundinnen, Agnieszka und Sonia, ein Profil auf Instagram, das Restaurants und Cafés in Toruń vorstellt (foodbook_torun). Ich liebe es, Essen zu arrangieren und zu fotografieren, Videos zu drehen und Reels zu erstellen. Ich plane auch gerne, welche neuen Lokale ich mit Freund:innen besuchen oder welches leckere Abendessen ich für meine Kinder zaubern möchte. In meiner Freizeit besuche ich kulinarische Workshops oder gehe auf Gastroreisen. Es scheint, dass ich von morgens bis abends ans Essen denke – und das gefällt mir ziemlich gut.
Am 9. September geht es in Eurer Veranstaltung im Schloss Benrath um die Kartoffel, mit der Ihr Euch eingehend beschäftigt habt. Was erwartet die Besucher:innen? Zur Veranstaltung „Die Vor-Kartoffel-Ära. Vergessene Biodiversität” haben wir renommierte Forscher:innen aus Polen, Deutschland und Österreich eingeladen, die die Geschichte und Kultur des Essens ergründen. Sie recherchierten in historischen Kochbüchern sowie in botanischen und ethnobotanischen Quellen nach Informationen über die Knollen und Wurzeln, die in der Küche vor Aufkommen der Kartoffel verwendet wurden. Außerdem spürten sie die ersten sporadischen kulinarischen Erwähnungen dieses Neuankömmlings aus der Neuen Welt im 16. und 17. Jahrhundert auf. Bei den Forscher:innen handelt es sich um Dr. Marlene Ernst und Dr. Barbara Denicolò aus Salzburg, Prof. Dr. Josef Matzerath aus Dresden, Dr. Peter Peter aus München und Prof. Dr. Łukasz Łuczaj aus Rzeszów (Polen). Unser Ziel ist es, die kulinarischen Traditionen und die vergangene Esskultur als Inspirationsquelle für die heutigen Generationen zu reflektieren.
Am Montag, den 9. September, werden wir am Abend jedoch nicht nur über die Kartoffel und ihre knolligen europäischen Vorfahren sprechen, sondern auch Gerichte nach historischen Rezepten von vor mehreren Jahrhunderten verkosten.
An diesem Tag werden die im Schloss Benrath versammelten Gäste und Gästinnen von den Köchen Norbert Sokołowski und Marcin Chmieliński kulinarisch verwöhnt. Sie sind im Palastmuseum Wilanów tätig und Experten für die Interpretation alter Rezepte, die sie in moderner Form servieren. Täglich führen sie kulinarische Workshops durch, in denen die Teilnehmer:innen nach historischen Rezepten kochen. Übrigens erhielt das Palastmuseum Wilanów für seine Bemühungen um die Vermittlung des kulturellen Erbes unter Einsatz des Instruments der kulinarischen Rekonstruktion 2019 die Auszeichnung „Europa Nostra“ der Europäischen Kommission.
Die Veranstaltung wird im Rahmen des Projekts „Von der Girlande der Königin Marysieńka zum Kartoffelsalat: Kartoffel in der polnischen und deutschen kulinarischen Tradition“ organisiert. Das Projekt wird vom polnischen Ministerium für Kultur und Nationales Erbe, das die polnische Kultur im Ausland fördert, kofinanziert. Es ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Kultureinrichtungen: dem Palastmuseum Wilanów, dem Polnischen Institut Düsseldorf, der Stiftung Schloss und Park Benrath sowie dem Sternerestaurant Agata‘s, das von der Polin Agata Reul geführt wird.
Die Kartoffel gilt ja gemeinhin als sehr „deutsch.“ Kannst Du uns einen kurzen Abriss zur Historie der Kartoffel geben? Der früheste überlieferte Hinweis auf das Auftauchen der Kartoffel in Europa stammt vom 28. November 1567 und bezieht sich auf eine notariell beglaubigte Frachtbescheinigung für eine Ladung von drei mittelgroßen Fässern mit Kartoffeln, Orangen und grünen Zitronen von Las Palmas de Gran Canaria nach Antwerpen. Dies war eine beliebte Route für den Transport von Kolonialwaren, die von den spanischen Konquistadoren aus Südamerika importiert wurden. Letztere machten in den 1630er Jahren zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Kartoffel in ihrem Heimatland Peru. Die Unterart der Kartoffel (Solanum tuberosum), die als erstes nach Europa gelangte, war die Solanum tuberosum andigena. Sie war die am weitesten verbreitete Kartoffelart in den Anden. Sie wurde auf kleinen Feldern in Tälern und auf Terrassen an den Berghängen angebaut und mit Dung von Lamas und Alpakas gedüngt.
Der Anbau einer anderen Unterart, der aus Chile stammenden Solanum tuberosum tuberosum, entwickelte sich auf dem Alten Kontinent, insbesondere in Nordeuropa, wesentlich besser. Im 16. Jahrhundert fand man diesen Neuankömmling aus Amerika sporadisch in den Apothekergärten, botanischen Gärten oder Gemüsegärten des Alten Kontinents; im 17. Jahrhundert gewann die Pflanze zunehmend an Bekanntheit. In botanischen Texten taucht sie unter dem Namen Solanum tuberosum auf, aber in kulinarischen Texten versteckt sie sich hinter verschiedenen Pseudonymen, unter anderem Erdartischoke, Erdapfel oder Tartufel.
Das stellt Historiker:innen heute vor ein erhebliches Problem, denn aufgrund der damals uneindeutigen Bezeichnungen für die Kartoffel können sie nicht klären, ob sich die ersten europäischen Rezepte für Kartoffelgerichte auf die Knolle aus der Neuen Welt oder vielleicht auf Trüffel oder andere Knollen beziehen. Die Ausbreitung des großflächigen Kartoffelanbaus in Europa geht auf das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zurück. Es dauerte also lange, bis die Europäer:innen dem Charme der Kartoffel vollständig erlagen und begannen, sie als Geschenk des Himmels, als Mittel gegen die Hungersnot und als ständigen Begleiter im Alltag zu betrachten.
Um die Gründe für die späte Ausbreitung des Kartoffelanbaus auf dem Alten Kontinent ranken sich viele Mythen. Eine davon besagt, dass die Europäer:innen die Kartoffel nur ungern aßen, weil sie nicht in der Bibel vorkam und daher von Gott nicht als Nahrung für den Menschen vorgesehen war. Es gibt auch viele Anekdoten über die Einführung des Kartoffelanbaus in bestimmten Ländern. Als Prometheus der Kartoffel gilt König Friedrich der Große von Preußen, der den Massenanbau von Kartoffeln anordnete, indem er 15 Kartoffelbefehle erließ. Der erste wurde 1746 anlässlich einer Hungersnot in Pommern erlassen.
Für seine Verdienste um die Förderung des Kartoffelanbaus in Frankreich war Antoine Parmentier bekannt. Während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) war er Oberapotheker der französischen Armee. Er geriet in preußische Gefangenschaft, wo Kartoffeln die Grundlage seines Speiseplans bildeten. Er schätzte die ernährungsphysiologischen Qualitäten der Knolle, die in seiner Heimat hauptsächlich an Vieh verfüttert wurde, und setzte sich nach seiner Rückkehr nach Frankreich für die Ausweitung des Kartoffelanbaus ein. Und was haben diese beiden Persönlichkeiten gemeinsam? Zum Gedenken an ihre Errungenschaften werden ihre Gräber noch heute mit Kartoffelknollen geschmückt.
In Polen entwickelte sich der Kartoffelanbau erst spät. Berichten zufolge „verabscheuten die Polen die Kartoffel lange Zeit und hielten sie für gesundheitsschädlich“. Ihr Aufstieg begann während der Herrschaft der Sachsen in Polen, insbesondere unter König August III. aus der Dynastie der Wettiner (1733–1763). Interessanterweise sind die modernen Namen der Kartoffel im Polnischen vom Deutschen abgeleitet: kartofel sowie ziemniak, was eine strukturelle Lehnübersetzung des Wortes Erdapfel ist.
Welches ist Deine Lieblingsanekdote zur Kartoffel? Die frühe Geschichte der Kartoffel in Europa (von Mitte des 16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts) ist meines Erachtens voll von bunten und erstaunlichen Geschichten über die Knolle, die wir heute als ganz banalen Teil unseres Alltags sehen. Als die Kartoffel nach Europa kam, wurde sie zunächst als Zierpflanze behandelt und in botanischen Gärten und Apothekergärten angebaut. Im 16. Jahrhundert bewunderten eher Botaniker:innen ihre Blüten, die Schattierungen von gelb über blau bis dunkelviolett annehmen, als Köche und Köchinnen die Knollen und ihre kulinarischen Eigenschaften. Im 18. Jahrhundert trug König Ludwig XVI. von Frankreich bei Hofbällen eine Kartoffelblüte auf seinem Frack.
Seine Frau Marie Antoinette trug Kartoffelblüten im Haar, weniger aus ästhetischen Gründen, sondern als Teil einer „PR-Kampagne“, um ihre Untertanen zum Anbau der Pflanze zu ermutigen. Aber die vielleicht erstaunlichste historische Anekdote über die Kartoffel ist für mich die über ein Edikt, das im Burgund des frühen 17. Jahrhunderts erlassen wurde und das den Verzehr von Kartoffeln verbot, weil die Gefahr bestand, sich durch sie mit Lepra zu infizieren. Dies stand wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Signaturenlehre, einer irrationalen medizinischen Theorie, die zu dieser Zeit sehr beliebt war. Laut dieser Theorie bestand ein direkter Zusammenhang zwischen dem Aussehen der Pflanze und der Krankheit oder ihrer Behandlung. In diesem Fall glichen die schuppige Haut der Kartoffel und die zahlreichen Keime und Triebe, die auf ihr erschienen, einem von Lepra befallenen Körper und beunruhigten die Menschen.
In welcher Form isst Du Deine Kartoffel am liebsten? Obwohl Kartoffeln das ganze Jahr über erhältlich sind, freue ich mich immer auf die Zeit, wenn neue Kartoffeln von lokalen Bauern auf dem Markt angeboten werden. Es liegt eine gewisse Poesie in der Tatsache, dass die Saison für sie so kurz ist. Ich koche sie ungeschnitten und ungeschält und liebe diesen Moment, wenn die zarten Butterflöckchen schnell und anmutig auf ihnen schmelzen. Dazu noch ein Spiegelei und ich brauche nichts mehr, um glücklich zu sein. In der übrigen Zeit des Jahres sind dick geschnittene, dreifach frittierte Pommes nur mit Salz oder mit Mayonnaise mein größtes Kartoffelglück.
Zu Hause esse ich am liebsten pierogi ruskie („ruthenische Piroggen“). Das sind mit Kartoffel und Quark gefüllte Teigtaschen – Meine Oma macht die besten! Ein anderes Gericht, das ich sehr mag und das ich einmal im Jahr, an Heiligabend, esse, sind Salzkartoffeln mit Sahnehering. Das ist ein typisch polnisches Gericht für den Heiligen Abend. Ich war verblüfft, als ich es vor einem Jahr bei einem Aufenthalt in Düsseldorf auf der Speisekarte der Brauerei Zum Schiffchen sah!
Wie sieht für Dich ein perfekter Abend mit Freunden aus, wenn es um das Thema Essen geht? Und spielt die Kartoffel dabei eine Rolle? Fantastische Frage! Sie hat mich zum Nachdenken gebracht und ich bin zu einem überraschenden Schluss gekommen: Man muss sagen, dass die Kartoffel in den letzten Jahren keine besonders gute Imagepflege erhalten hat. Angesichts der Beliebtheit von kohlenhydratarmen Ernährungsformen wie der ketogenen Diät wurde sie als Störfaktor auf dem Weg zu einer schlanken Figur angesehen. Außerdem gilt die Kartoffel eher als Teil der traditionellen Küche und passt selten in neue Trends. Wenn wir mit Freunden essen gehen, neigen wir dazu, nach Neuem Ausschau zu halten und Lokale mit thailändischen Currys, neapolitanischer Pizza mit Zutaten direkt aus Italien oder Restaurants mit eigenen, ausgefallenen Kreationen zu besuchen. In letzteren wird die Kartoffel oft als zu banale Zutat abgetan. Stattdessen werden Schäume aus geröstetem Blumenkohl, Pastinake oder Kürbis serviert. Das Ergebnis ist, das muss man leider zugeben, dass die Kartoffel entweder zu Hause, in Restaurants mit traditioneller Küche oder in Fast-Food-Läden zu finden ist, wo sie am häufigsten in Form von Pommes serviert wird.
Welchen Stellenwert hat die Kartoffel in Polen? Wahrscheinlich können wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Kartoffeln sind eine Zutat in Gerichten, die mit dem Elternhaus verbunden werden und eine Art comfort food sind. Wir lieben knusprige Kartoffelpuffer, Kartoffelkuchen (aus geriebenen Kartoffeln, Zwiebeln und Speck) und verschiedene Arten von Kartoffelklößen, wie kopytka (kleine Kartoffelklöße), schlesische Klöße, graue Kartoffelklöße mit ausgelassenem Speck oder pyzy (das polnische Äquivalent zu Klößen), die mit Fleisch oder auch Obst gefüllt werden. Obwohl auf unseren Tischen zunehmend Sushi und Gerichte aus aller Welt landen, assoziieren wir mit dem traditionellen Sonntagsessen immer noch Schweinekoteletts mit Salzkartoffeln.
Als die Kartoffel auf polnischem Boden heimisch wurde (Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts), nahm sie einen wichtigen Platz in der täglichen Ernährung sowohl der Stadt- als auch Landbevölkerung ein. Sie wurde auch ein wichtiger Teil der Volkskultur. In einem Wörterbuch der polnischen Sprache aus dem Jahr 1902 sind mehr als 130 volkstümliche und regionale Namen für die Kartoffel aufgeführt. Einer davon ist pyra – so wird die Kartoffel in der Region Wielkopolska (Großpolen) genannt. Der Name leitet sich wahrscheinlich von Peru ab. Die Einwohner:innen dieser Region, deren Hauptstadt Poznań ist, gelten traditionell als Kartoffelliebhaber:innen und werden umgangssprachlich als pyra bezeichnet.
Die Kartoffel bildet die Grundlage der polnischen Regionalküche. Die Zahl der traditionellen Kartoffelgerichte, die sich in den Zutaten, Zubereitungstechniken und Namen unterscheiden, übersteigt sicherlich die Tausend. Einige von ihnen wurden durch die Eintragung in die Liste der traditionellen Produkte des Ministeriums für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung ausgezeichnet. Dies ist zum einen eine Form des Schutzes traditioneller Geschmäcker und Rezepte und zum anderen ein Impuls für die Entwicklung des kulinarischen Tourismus und die Entdeckung des kulturellen Erbes der Regionen Polens.
Was wünschst Du Dir für die Zukunft der Esskultur? Glaubst Du, dass wir mehr über unsere Lebensmittel lernen sollten? Ich würde mir wünschen, dass mehr Lebensmittel aus fairem, biologischem Anbau stammen und auf nachhaltige Weise produziert werden. Die Bestrebungen, alte Arten und Sorten wieder anzubauen, finde ich sehr gut, auch wenn sie eher marginal sind. Heutzutage finde ich es aufregender, Sauerteigbrot aus alten Getreidesorten wie Emmer oder Einkorn zu probieren als eine reife Mango oder Avocado, obwohl das in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. Es ist eine Frage der Ernährungsbildung und des Ernährungsbewusstseins. Ich denke, die Beschäftigung mit dem kulinarischen Erbe einzelner Regionen und Länder oder mit der Geschichte von Lebensmitteln ist heute besonders notwendig, da unsere kulinarischen Praktiken im Zuge der Globalisierung immer einheitlicher werden und der Genpool an Arten und Sorten von Kulturpflanzen stetig abnimmt.
Während der Veranstaltung auf Schloss Benrath (9. September) werden wir über Wurzeln und Knollen wie die Zuckerwurzel, Garten-Schwarzwurzel, Pastinaken, Steckrüben und den Knolligen Kälberkropf (Chaerophyllum bulbosum), die früher in polnischen, deutschen und österreichischen Gärten angebaut wurden, und ihr kulinarisches und gastronomisches Potenzial sprechen und sie bei einer Verkostung probieren können. Sie sind herzlich dazu eingeladen!
Vielen Dank!
„Die Vor-Kartoffel-Ära. Vergessene Biodiversität“
Montag, 9. September 2024, 18 – 20 Uhr
Kulinarische Vorführung mit historischen Kommentaren von Esskulturforscher:innen und –Historiker:innen aus Polen, Deutschland und Österreich. Begleitend dazu Mini-Verkostung zum Thema vergessene Biodiversität – Knollen und Wurzelgemüse, Anmeldung unter: besucherservice@schloss-benrath.de
Schloss Benrath
Roland Weber Festsaal & Kapelle
Benrather Schloßallee 100-106
40597 Düsseldorf
(c) THE DORF 2024
Text: Valentina Görke
Übersetzung aus dem Polnischen: Thomas Baumgart
Fotos: siehe Bildbeschreibungen