‚Mehr über das sprechen, was verbindet‘ – Oberbilk. Hinterm Bahnhof | Das Buch

Erst einen Monat ist das neue Buch “Oberbilk.Hinterm Bahnhof” von Alexandra Wehrmann und Markus Luigs auf dem Markt und es ist schon längst über die Stadtteilgrenzen Oberbilks hinaus bekannt. Und das hat definitiv seine Berechtigung: Wer bereits die Chance hatte, durch das Buch zu stöbern und sich die vielen intimen Fotos und Geschichten der Bewohner*innen Oberbilks zu Gemüte zu führen, der hat nicht wenig Lust die eigene Wohnung zu kündigen und nach Oberbilk zu ziehen. Denn dort sind “alle Königinnen. Oder Helden”, wie Andrea Abbing, eine der Protagonist*innen des Buches, erläutert. 

Der betextete Bildband über das Viertel hinter dem Düsseldorfer Hauptbahnhof porträtiert feinfühlig und authentisch  Lebens-, und Alltagsgeschichten der Bewohner*innen Oberbilks. Das Buch erlaubt einen tiefen Einblick in die verschiedensten Lebensrealitäten, die in Oberbilk Tür an Tür gelebt werden. Auch wenn diese Realitäten noch so unterschiedlich sind, zwischen den Bewohner*innen findet eine gegenseitige Akzeptanz und Unterstützung statt, die es woanders wohl nicht so leicht zu finden gibt. Oberbilk ist kein simples Stadtviertel, Oberbilk ist ein Lebensgefühl. 

THE DORF hat die AutorInnen Alexandra Wehrmann und Markus Luigs zum Interview getroffen. Sie erzählen von Begegnungen, Chancen, Kreativität und ihren ganz persönlichen Erfahrungen während des Entstehungsprozesses.

Mittlerweile hat gefühlt jeder Düsseldorfer Haushalt ein Exemplar von Eurem Buch. Wie fühlt es sich an – quasi über Nacht – stadtbekannte Star-AutorInnen geworden zu sein? Schnuppert Ihr bereits Bestseller-Luft?
Markus: Ja, wie fühlt es sich an? Erst einmal ganz gut. Wir hatten allerdings bis dato keine Möglichkeit, es zu zelebrieren oder einfach mal in Ruhe selber durch das Buch zu blättern, da wir gefühlt vom Machen- über den Promo-Modus übergangslos in den Vertriebs-Modus gegangen sind. Angenehm ist, dass der lokale Buchhandel von sich aus angefragt hat, und wir nicht wie Handlungsreisende mit einem Musterexemplar in der Hand den Düsseldorfer Bücherhimmel ablaufen mussten. Das mag aber auch daran liegen, dass sowohl Alexandra als auch ich nicht erst seit gestern im Dorf aktiv sind und dass wir es geschafft haben, alle Kanäle in Sachen Promo bis zur Selbstaufgabe zu befeuern. 

Alexandra: Tatsächlich hat das Buch mittlerweile ganz schön weite Kreise gezogen. Schon knapp zwei Wochen nach dem Erscheinen kam aus unserer Oberbilker Druckerei die Nachricht, dass über die Hälfte der Exemplare weg sind. Und wir haben immerhin 2.000 Stück drucken lassen.
 
Eure Reichweite geht über die Stadtgrenzen von Oberbilk hinaus. In der Bilker Buchhandlung BIBABUZE gehört das Werk gemeinsam mit “Identitti“ von der Oberbilkerin Mithu Sanyal zu den bestverkauftesten Büchern. Oberbilk scheint da ja nahezu eine Erfolgsquelle für kreative Köpfe zu sein. Warum glaubt Ihr, ist das so? 
Alexandra: Der Musiker Stefan Schneider, einer von 38 Menschen, die wir für „Oberbilk. Hinterm Bahnhof“ porträtiert haben, hat es eigentlich ganz gut auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt, es sei eine Qualität des Stadtteils, „dass auch Menschen, die keine Karriere verfolgen, hier einen Platz finden, dass es Schlupflöcher für freakige Lebensentwürfe gibt“. In Oberbilk kann man sein, was und wer man möchte – ohne dass jemand daran Anstoß nimmt. Ich glaube, für kreative Arbeit jeglicher Art ist das eine ziemlich gute Basis. 

Die drei schönsten Komplimente zum Buch waren?
Alexandra: Mir gefiel der Kommentar von Christian „Don Trosi“ Trosdorff, einem Aktivposten der hiesigen Kulturszene, gut. Er notierte unter einem unserer unzähligen Facebook-Postings folgendes: „Für mich persönlich ist es jetzt schon das Beste, was ich je über Düsseldorf gelesen habe. Keine Kraftwerk/Doldinger/Beuys-etc.-Abarbeitung an der Vergangenheit, sondern ein Buch über das Hier und Jetzt, über das Herz von Düsseldorf: das alte Zentrum und die Menschen!“ Als ich das gelesen habe, hatte ich schon das Pipi in den Augen stehen.

Markus: Darüber hinaus haben wir beide uns natürlich sehr darüber gefreut, dass Philipp Holstein das Buch mochte. Er nannte es das „Trans Europa Express der Oberbilk-Bücher“. Und meinen ehemaligen Prof Wilfried Korfmacher will ich an der Stelle nicht vergessen. Wilfried schrieb mir, er empfehle das Buch ab sofort zusammen mit dem alten Oberbilker Dieter Forte weiter. Und Dieter Forte wird im Zusammenhang mit Oberbilk ja einfach immer genannt. 
 
Gab es auch negative Reaktionen?
Markus: Ohne konkrete Namen zu nennen: Eine Oberbilker Bildungseinrichtung hat einen Schwung Bücher bestellt und wunderte sich, dass sie nicht im Buch vorkommen. Da stehst du dann mit der gelben, schweren Postkiste und kommst in eine Rechtfertigungs-Situation. 

Alexandra: In dem Zusammenhang vielleicht wichtig, noch mal zu sagen: „Oberbilk. Hinterm Bahnhof“ erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist nicht DER Blick auf Oberbilk, sondern EIN Blick. Der von Markus und mir. Wenn jemand anders das Buch gemacht hätte, hätte es naturgemäß völlig anders ausgesehen.

Ihr habt zwei Jahre an dem Band gearbeitet. Was hat Euch während des Prozesses nachhaltig geprägt?
Markus: Die Tatsache, dass ich hier ganz anders fotografisch an das Thema herangegangen bin. Menschen spielen bei meinen freien Arbeiten ansonsten keine sehr große Rolle. Bei dem Projekt war es aber so, dass du dich der Fassade näherst, an einer Tür klingelst und einem Menschen begegnest, den du in den meisten Fällen nicht kennst. Bevor ich da die Kamera aktiviere, versuche ich erst einmal, die Person und ihre Umgebung zu begreifen. Das kann dann auch mal zwei Stunden bis zum ersten Klick dauern.

Alexandra: Am Ende des Projekts steht für mich die Erkenntnis, dass ein Stadtteil, in dem 135 Nationen auf engem Raum miteinander leben, neben den in dem Zusammenhang immer gerne thematisierten Schwierigkeiten, auch viele Chancen birgt. Dass man weniger über das sprechen sollte, was die Menschen trennt, und mehr über das, was sie verbindet. Jacob Jonas Bockarie-Jabbie, ein Schüler, den wir für das Buch getroffen haben, hat es so formuliert: „Ob schwarz, weiß, gelb oder pink – ist doch scheißegal. Letztendlich sind wir alle Menschen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. 

Gab es eine*n Protagonist*in, den/die Ihr besonders mochtet oder der/die herausgestochen ist?
Markus: Die Begegnung mit der damals siebenjährigen Mika Wiese fällt mir da spontan ein. Mika ist in Oberbilk geboren, der Stadtteil ist für sie also in erster Linie eins: Zuhause. Beim Foto-Shooting war sie für ein Kind ihres Alters unglaublich auf den Punkt. Man musste ihr nicht viel erklären. Sie wusste sofort, was zu tun war. Auch die Begegnung mit Ugur Kepenek ist mir in Erinnerung geblieben. Ugur ist Rapper, er macht unter dem Namen Busy Beast schon seit vielen Jahren Musik. Als ich ihn in seiner Wohnung auf der Eisenstraße besuchte, hat er mir einen Song vorgerappt, der in der Nacht vorher entstanden war. Ein sehr besonderer Moment. 

Alexandra: Ich persönlich bin großer Fan von Eva Essa. Eva hat zusammen mit einigen Mitstreitern vor mehreren Jahrzehnten die „Christliche Hausgemeinschaft“ gegründet. Sie leben in einem Haus auf der Kölner Straße und nehmen dort Drogenabhängige und Prostituierte auf, die aus ihren Milieus aussteigen möchten. Eva ist eine unglaublich starke Frau, die „Christliche Hausgemeinschaft“ ein wahnsinnig tolles Projekt.

Gibt es eine Geschichte, die Euch ganz besonders ans Herz gegangen ist?
Alexandra: Die Geschichte von Kendra und Maciej, einem deutsch-polnischen Paar, das eine Zeit lang in der Unterführung am hinteren Ende der Emmastraße lebte. Ihr sehnlichster Wunsch: eine Wohnung, in der sie abends, wenn sie von der Arbeit kommen, heiß duschen und anschließend fernsehen können. Mittlerweile sind sie ihm ein Stück näher gekommen. Ich habe vor einigen Tagen mit den beiden telefoniert. Sie wohnen jetzt in einem ehemaligen Altenheim in Gerresheim und müssen nicht mehr draußen schlafen.

Was war das persönlich Schwierigste für Euch? Gab es Grenzen, auf die Ihr gestoßen seid? 
Alexandra: Wir haben ja in erster Linie mit Menschen gesprochen, die über keinerlei Interview-Erfahrung verfügten. Denen mussten wir natürlich zunächst mal vermitteln, was wir von ihnen möchten, wie so ein Interview abläuft – und dass eine gewisse Offenheit und ein Vertrauen in Markus und mich unerlässlich sind. Trotzdem hat es nicht immer funktioniert. Es gab auch Menschen, denen das Gespräch dann plötzlich zu intim war. Oder die sich in meinem Text nicht wiedergefunden haben. Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung unterscheiden sich ja häufig doch sehr stark voneinander. Ein paar Beiträge haben es deshalb nicht ins Buch geschafft, sondern sind im Giftschrank verschwunden. In den allermeisten Fällen hat es aber gut funktioniert. Die Menschen sind uns mit großer Offenheit gegenübergetreten. 

Markus: Bei einigen wenigen war es für mich aus rein fotografischer Sicht schwierig, die Person und die damit verbundene Geschichte in Bildern festzuhalten. Aber der schwierigste Moment von allen während des Projekts war das Bullet-Proof-Coffee-Tasting bei Matti Rouse. Ein Kaffee, dem jede Menge Butter und eine Art Kokosnuss-Öl hinzugefügt wird. Eine Erfindung aus der Hölle.

Welche drei Dinge möchtet Ihr in Oberbilk auf keinen Fall missen?
Markus: Die oberste Etage vom Parkhaus am Hauptbahnhof. Das Essen bei „La Grilladine“. Okay, das sind jetzt nur zwei. Sollte aber reichen.

Alexandra: Die Lebendigkeit. Die Vielfalt. Die gut funktionierende Community. 

Was ist Euer persönlicher Lieblingsort?
Markus: Die Gegend rund um Heerstraße und Im Liefeld mag ich irgendwie, auch wenn ich nicht weiß, ob ich sie als Lieblingsort bezeichnen würde. Eine Gegend mit eigener Gesetzgebung und bevorzugter Barzahlung. Alleine mit Kamera werde ich da allerdings nicht mehr hingehen. 

Alexandra: Mich zieht es regelmäßig zur Harffstraße, wobei die nur zur Hälfte zu Oberbilk gehört. Die Stadtteilgrenze verläuft genau in der Fahrbahnmitte. Von der Kölner Landstraße kommend gehört die linke Seite zu Oberbilk, die rechte zu Wersten. Auf der Harffstraße gibt es eine bemerkenswert schräge Mischung unterschiedlichster Gewerbe. Man findet unter anderem ein Tierambulatorium, ein Inkassounternehmen, zwei Kampfsportschulen, ein DJ-College, ein Laden mit italienischer Fashion und eine Schule des Islamischen Sufismus. An solchen Orten gehe ich bevorzugt auf Entdeckungsreise.

Vielen Dank!

Text/Interview: Franka Büddicker
Fotos: Anne Orthen
© THE DORF 2021

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