Wohin jetzt, Herr des Weltalls – Oder: Braucht es doch Terror, um aufzuwachen?
Die Botschaft am Worringer Platz, umrahmt von Döner- und Trophäengeschäft, nur bedingt zugänglich, stets gefährdet, als künstlerisches Terrain verloren zu gehen. Nicht das erste Mal Claudia Bosses Terrain: „Thyestes Brüder! Kapital!“, in Koproduktion mit dem FFT Düsseldorf kam es hier am 13. September zur Premiere.
Die Reise beginnt im Inneren des Körpers. Fünf Performer*innen ringen nackt um Atem. Sie holen buchstäblich Luft aus jeder Zelle, jeder Falte, jedem Winkel der Organe. Saugen sie ein und stoßen sie wieder aus – bis dabei Laute entstehen. Ein Gebrüll, das tief in die Zuschauerin eindringt und dabei Mark und Bein erschüttert. So bildet sich zu Beginn von Claudia Bosses „Thyestes Brüder! Kapital“ in der Botschaft am Worringer Platz eine Gemeinschaft der Leiber.
Die Wiener Regisseurin, Choreografin und Künstlerin Claudia Bosse inszeniert Senecas Tragödie „Thyestes“ als eine begehbare Raum-Text-Choreografie, die Performer*innen und Zuschauer*innen zu einem zusammenhängenden Organismus, einer sozialen Skulptur werden lässt: Man atmet den Text, kaut und verdaut ihn mit. Es entsteht das Bedürfnis, ihn ebenso auszuspeien. Man vollzieht den nicht endenden Konfrontationskurs von Individuum und Gesellschaft, Macht und Unterdrückung, Göttern und Kreaturen nach, der im antiken Mythos mit Tantalos‘ Herausforderung der Götter seinen Anfang nimmt: Ein Zyklus von Gewalt, aus dem es kein Entrinnen gibt, zieht seine Bahn. Das antike Orakel, das die Zukunft aus den Eingeweiden liest, leuchtet ein und trifft auf Claudia Bosses Art und Weise, Sprache und von ihr bewegte Körper räumlich zu organisieren. Was bedeutet die anatomische Nähe von Atmen, Sprechen, Essen? Seneca trifft dabei auf Karl Marx und erweitert den rachegenerierenden Reigen um den ökonomischen Zirkelschluss von Produktion, Distribution und Konsumtion.
Farben markieren/maskieren an diesem Abend die durchlässige Membran zwischen einem Körperinnen und Außen und lassen diese samt der Nacktheit auch wieder verschwimmen. Weiß: Tantalos, der den Unglücksreigen startet und von den Göttern mit ewigem Hunger und Durst bestraft wird. Gelb: die Furie, die ihn anstachelt, seine Nachfahren gegeneinander auszuspielen. Violett: Atreus, der bestialische Rache an seinem betrügerischen Bruder spinnt. Braun: der Bote, der von den Greueltaten in Mykene berichtet. Lediglich Thyestes bleibt ohne Farbe. Vorerst. Denn zum Schluss markiert das Blut seiner eigenen Söhne, die er unwissend verschlungen hat, seinen Körper.
Welche unvorstellbaren Grausamkeiten müssen die Menschen noch begehen, bevor die Erde untergeht, scheint ein den Organismus aus Performer*innen und Zuschauer*innen erweiternder Chor aus Jugendlichen zu fragen: „Verdrehte Welt![…] Was, wenn Natur sich zurückholt die alte Erde.“ Nachdem der Kosmos sich das Licht zurückgeholt hat, gipfelt der Sprache-Raum-Organismus in der plastischsten Verschlingung des Abends: die Rache für begangene Taten eng verflochten mit der Unmöglichkeit einer besänftigten Zukunft. Das, was zuvor vom Boten verbalisiert wurde, bekommen alle Anwesenden jetzt zu sehen: In wahnwitzigem Genuss verspeist Thyestes unwissend seine Kinder, während sein Bruder Atreus einen Catwalk von Arroganz und Genugtuung beschreitet, die Zuschauer*innen als Komplizen umgarnt. Am Ende steht der Tanz des Fleisches. Und wir fühlen uns erinnert an den Beginn des Abends, an die markerschütternden Schreie aus dem tiefsten Inneren des Körpers.
Mit „Thyestes Brüder! Kapital“ eröffnet das FFT Düsseldorf die internationale Performance-Reihe „Eve of Destruction“. Das Ende der Welt wird in fünf Produktionen zum Ausgangspunkt fantastischer, grausamer, aber auch utopischer Vorstellungen. Mit dabei sind neben Claudia Bosse/theatercombinat auch Via Negativa aus Slowenien, die Tanzregisseurin Helena Waldmann, Ariel Efraim Ashbel and friends und das AGORA Theater aus Belgien.
Thyestes Brüder! Kapital
von Claudia Bosse / theatercombinat in Koproduktion mit FFT Düsseldorf.
Nach „Thyestes“ von Seneca
11., 13. und 14. September 2019
Botschaft am Worringer Platz
Worringer Platz 4
40210 Düsseldorf
Weitere Aufführungen: 2.-17. Oktober 2019 Wien, Kasino am Kempelenpark
Text: Verena Meis & Katja Grawinkel-Claassen
Fotos: Robin Junicke
© THE DORF 2019