Ruby

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind bereits zwei Monate vergangen, aber diese neue Realität zu akzeptieren, fällt den meisten immer noch schwer. Es ist eine Realität, die von von Schmerz, Zerstörung und Brutalität geprägt ist und tausende Menschen dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen. Im Interview erzählt uns Ruby von ihren Erfahrungen. Die junge Künstlerin lebt in Düsseldorf und kommt ursprünglich aus der Ukraine, wo ein Großteil ihrer Familie sich immer noch befindet. Sie erzählt davon, wie es ist, sich ständig um die Liebsten zu sorgen und auch davon, wie diese Gefühle ihre Kunst beeinflussen. Gemeinsam mit der Künstlerin Daria Nazarenko, mit der wir im März gesprochen haben, entwickelt sie derzeit Möglichkeiten, geflüchteten Künstler*innen zu helfen. 

Bitte stell Dich doch kurz vor: Wer bist Du und was machst Du? Hallo. Mein Name ist Ruby. Ich bin 25 Jahre alt und komme aus der Ukraine. Ich bin eine selbstständige Künstlerin und studiere nebenbei Transkulturalität mit dem Schwerpunkt Medien-Kulturwissenschaften an der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf. 

In welchen Bereichen bist Du kreativ tätig und mit welchen Themen beschäftigst Du Dich? Die meiste meiner Kreativität entsteht beim Tanzen selbst. Ich bin Freestylerin, das bedeutet, die Musik geht an und ich fange an zu kreieren. Ich beschreibe es gerne als einen Spielplatz aus Bewegungen, Dynamiken, Techniken und Emotionen. Da meine tänzerischen Wurzeln im HipHop verankert sind, beschäftige ich mich sehr stark mit HipHop-Geschichte, aber auch mit der Geschichte von anderen urbanen Tanzstilen. Ich unterrichte im Tanzstudio 60/30 in Köln und mir ist es sehr wichtig, neben der Bewegung selbst Kultur und Geschichte der jeweiligen Tanzrichtungen weiterzugeben. 

Außerdem sammle ich momentan Erfahrungen als Creative Director und Choreografin und finde mich in der Erstellung von Theaterperformances und in der Konzipierung von Videos wieder. Die Außenperspektive lässt mich verschiedene Thematiken besser aufgreifen und ästhetischer darstellen. Das alles ist noch in den Anfängen und wird in den nächsten Jahren mehr ausgebaut. Mit welchen Themen ich mich momentan beschäftige, variiert sehr. Und das ist, was das Kreieren so spannend macht. Es kann aus allem entstehen, wenn du dafür offen bist. Kreativität ohne Ziel kann sehr befreiend und meditativ sein, das ist der Grund, warum ich mit dem Tanzen angefangen habe.

Welches Deiner Projekte hat Dich besonders geprägt? Ich habe das Vergnügen, momentan viele Projekte zu machen, die mich als Künstlerin fördern. „KOI – 0509“ ist eines der Projekte, das mich in den letzten Monaten stark beeinflusst hat. Das ist ein Theaterstück von Bernd Pierre Louis und mir, in dem wir beide die choreografische und tänzerische Umsetzung kreiert und ausgeführt haben. Das Stück handelt von einem möglichen neuen sozialen Miteinander in einer Zukunft nach der Pandemie. Am 22. April 2022 hatten wir unsere Premiere im tanzhaus nrw.  Das Projekt hat mir gezeigt, dass urbaner Tanz auf der Theaterbühne funktioniert und auch auf positive Resonanz stößt. Zusätzlich lernte ich, wie Theaterstücke zu konzipieren sind und was alles im Hintergrund beachtet werden muss. Ich danke den Beteiligten für ihre Hilfe : Yeliz Pazar, Bahar Gökten, Philipp Schaus, Angelique Cruz und noch viele mehr.

Wie lange lebst Du schon in Düsseldorf und wie sah Dein Weg hierher aus? 2017 gab es hier ein Tanzfestival namens „Free Spirit“, das im tanzhaus nrw statt fand. Ich habe mich damals gefühlt wie in einem Film, so viele inspirierende Tänzer*innen auf einem Fleck. Ich wusste sofort, was mein nächster Schritt sein würde. Also bin ich nach Dresden gefahren, habe mein Studium abgebrochen, meine Wohnung gekündigt und bin 2018 nach Düsseldorf gezogen. Dadurch hat sich mein Leben um 180 gedreht und ich habe so viele neue Perspektiven wahrnehmen dürfen. Die Entscheidung zwischen Sicherheit und Leidenschaft hat sich auf jeden Fall gelohnt.

Welche Orte in Düsseldorf schätzt Du besonders, sowohl beruflich als auch in deiner Freizeit? Wenn ich an Düsseldorf denke, dann wäre meine erste Wahl das tanzhaus nrw. Die internationale Institution hat für meine Kunst neue Türen geöffnet und dafür werde ich immer dankbar sein. Als zweites wäre da meine eigene Küche. Ich lebe in einer Zweier-WG und es fühlt sich an, als wären wir eine Familie. Das ist mein Ort, wo ich wieder auftanke, wo wichtige aber auch unglaublich lustige Gespräche stattfinden. Wenn eure Leser*innen sich im Sommer in Düsseldorf befinden, dann müssen sie unbedingt eine gemütliche Decke nehmen und im Volksgarten eine Runde picknicken. Wenn wir schon beim warmen Wetter sind, dann darf ich die Parkplatz-Tanzsessions neben Eller-Mitte mit meinem Trainingspartner Volt nicht vergessen. Unvergessliche Momente, das kann ich schonmal verraten. 

Was empfindest du angesichts des Krieges in der Ukraine? Wie hat sich Dein Leben in den letzten Wochen verändert? Ich empfinde so vieles. Am Anfang war es ein Schockzustand. In den ersten Wochen wurde jeder Tag von Angst, Sorge, Trauer, Wut, Hass, Wehmut und Schuldgefühlen begleitet. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt. Ich war nur am Handy, versuchte überall zu helfen, recherchierte viel, teilte Informationen, habe Menschen miteinander verbunden, habe übersetzt, ging auf Demos, spendete, usw.  die Liste ist immer noch lang. Dies wurde meine neue Realität. Ich erlaubte mir nicht, eine gute Zeit zu haben und alles fühlte sich einfach so falsch an. Problematisch wird es, wenn dein Beruf dir so viel Spaß macht. Zum Glück hatte ich tolle Menschen um mich herum, die mich gelenkt haben, weil es sich sonst in eine toxische Richtung entwickelt hätte. 

Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Warum zerstören wir uns selber? Diese Absurdität ist weiterhin unerklärbar und stößt bei mir auf Widerstand. Wir sind jetzt schon im zweiten Monat des Krieges und es fühlt sich immer noch nicht real an. Das erschreckendste dabei ist, dass ich mich an diese neue Realität gewöhne. Die zwei Realitäten werden durch die medialen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts miteinander verbunden. Diese letzten zwei Monate waren sehr lehrreich. Wo darf ich emotional sein und was erfordert pure Rationalität? Wie weit kann ich meine eigenen Energieressourcen aufbrauchen, um wirklich hilfreich zu sein? Die Tage sind seit dem Krieg länger geworden und die Nächte kürzer. 

Hast Du Familie oder Freunde in der Ukraine? Falls ja, wie geht es ihnen? Meine komplette Familie ist in der Ukraine. Nur meine Mom wohnt in Dresden und ich befinde mich hier. Wie soll es denen gehen? Die sind alle noch am Leben und sind gesund. Ich denke, dieser Gedanke bringt mich durch den Tag. Ich weiß nicht, was morgen passieren wird. Ich lebe Tag für Tag und nicht Woche für Woche. Ich kann behaupten, dass es ihnen nicht anders geht. Die Taschen sind gepackt, um so schnell wie möglich zu fliehen, aber der Wunsch, mit allen beisammen zu Hause zu sein, ist so viel größer, sodass niemand weggehen möchte. Derzeit befinden sie sich auch in einer ruhigen Stadt im Westen der Ukraine Ivana-Frankiwsk, zumindest die meisten von ihnen. 

Zum Glück ist mein Vater noch nicht an der Front, sonst wäre ich wieder bei den Emotionen am Anfang und würde jeden Tag auf eine positive Nachricht hoffen. Aber dafür sind manche von meinen Freunden an der Front, Onkel und auch Cousins. Ich komme nicht damit hinterher, jeden Tag nachzufragen, ob alles gut ist. Wenn niemand aus der Familie schreibt, interpretieren wir das als Zeichen dafür, dass die Männer am Leben sind. Es ist einfach so bizarr. Wenn in ein paar Jahren ein Klassentreffen stattfindet, weiß ich nicht mal, ob ich alle wiedersehen werde. Die Konsequenzen des Krieges werde ich höchstwahrscheinlich nach und nach über die Jahre erfahren. Für jetzt bleibt einem die Hoffnung, dass alles gut gehen wird und dieser Krieg ein schnelles Ende findet. 

Wirken sich die jüngsten Ereignisse auf Deine Kunst aus? Falls ja, inwiefern? Ja. Ich tanze viel, aber nicht für mich. Ich will auch nicht so tief in meine Emotionalität eintauchen, denn dafür bin ich noch nicht bereit. Zwischendurch breche ich ein und das ist auch in Ordnung, um loszulassen, aber sonst bin ich eher blockiert. Zum Glück kann ich meine Emotionen ein bisschen regulieren, wenn es sich um professionelle Bereiche meiner Kunst handelt. Durch andere Themen vergesse ich für den kurzen Moment den eigentlichen Zustand und setze meiner Kreativität einen freien Lauf. 

Die Künstlerin Daria Nazarenko hat im Interview mit THE DORF erzählt, dass Ihr gemeinsam eine Residenz für geflüchtete Menschen plant. Wie kam es dazu und wie würdest Du das Projekt beschreiben? Wir beide sind in derselben Crew „Hood of Sisters“. Daria Nazarenko hatte die Möglichkeit, mit dem Zollverein Ideen zu entwickeln. Ich kooperiere derzeit mit dem tanzhaus nrw, wo wir an der gemeinsamen Entwicklung von Möglichkeiten für geflüchtete Künstler*innen interessiert sind. In einer so kritischen Zeit ist es wichtig, einen starken öffentlichen Raum zu schaffen, der sich für geflüchtete Künstler*innen einsetzt. Etablierte Institutionen wie das tanzhaus nrw oder der Zollverein bedeuten auch gleichzeitig mehr Möglichkeiten bei der Durchsetzung von Förderungen. 

Ziel ist es, ukrainischen Künstler*innen eine Plattform zu bieten und sie in die deutsche Kunstszene einzubinden. Wir hätten sehr gerne einen Raum zur Verfügung, wo die geflüchteten Künstler*innen trainieren können und finanzielle Unterstützung erhalten. Das Highlight wäre eine Unterkunft, aber das ist gar nicht so einfach und dauert in Deutschland sehr lange. Wir befinden uns mitten in diesem Prozess und prüfen weitere Optionen, die Flüchtlingsgemeinschaften langfristig unterstützen können.

Welche Macht hat Kunst, in der aktuellen Situation etwas zu bewegen? Welche Erfahrungen hast Du dahingehend in der Düsseldorfer Kunstszene gemacht? Kunst bewegt Menschen. Menschen treiben die Politik voran und die Politik lässt Veränderungen zu. Ich denke, Kunst hat oft eine ähnliche Entwicklung mit gesellschaftlichen und politischen Themen. Seien es Weltkriege, Revolutionen, Aufstände, Demonstrationen. Kunst betont gesellschaftliche Meinungen. Kunst ist nicht immer nur ästhetisch und schön, sondern auch sehr provokativ und unzensiert. Sie vermittelt oft Gefühle, wo Wörter selbst keine Relevanz mehr haben. Kunst ist Politik. Welche Erfahrungen habe ich in der Düsseldorfer Szene gemacht? Ich denke es ist die Unterstützung von allen Seiten. Ich hatte noch nicht die Möglichkeit, es in bestimmten Kunstwerken oder Konstellationen, Performances wiederzufinden. Viele müssen noch reflektieren und dann wird das Thema  aufgegriffen. Es braucht Zeit. 

Kennst Du bestimmte Projekte oder Organisationen, die sich für die Ukrainehilfe einsetzen und von unseren Leser*innen unterstützt werden sollten? Es gibt einmal die Seite ukraine.lnob.net. Da können die Leser*innen sehen, wo sie was spenden können und welche weiteren Möglichkeiten es gibt, um sich zu engagieren. Ihr registriert Euch und innerhalb von ein bis zwei Tagen bekommt Ihr eine Antwort mit verschiedenen Angeboten. Danach werdet Ihr eingeteilt. 

Wenn Ihr jemanden aufnehmen möchtet, dann würde ich die Seite host4ukraine.com empfehlen. Wenn es spezifisch um den künstlerischen Bereich geht, dann können die Leser*innen sich Förderungsmöglichkeiten vom Kulturrat oder vom Landestanzbüro ansehen und den ukrainischen Artists helfen, diese zu beantragen.

Was wünscht Du Dir für die Zukunft? Ich wünsche mir Frieden für alle. Ich wünsche mir mehr Bewusstsein und ein stärkeres Miteinander. Ich wünsche mir, dass eine 180-Grad-Wendung in unserer Denkweise stattfindet. In Bezug darauf, dass wir uns von dieser Konsum geprägten eurozentristischen Profitmachermentalität entfernen und einfach mal sind. Es ist und bleibt eine Utopie, und wir tun derzeit alles, um in die falsche Richtung zu gehen, und nicht einmal die globale Pandemie hat unsere Denkweise geändert.

Vielen Dank!

Interview & Text: Antonia Lauterborn
Fotos: Binh Minh Dao, Isabel Spantzel, Anh Ngoc Tran
(c) THE DORF, 2022

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